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Dies ist Teil V eines mehrteiligen Artikels.
Weitere Teile: I. Einleitung  |  II. Urteilsheuristiken  |  III. Attributionsfehler  |  IV. Lerntheoretische Überlegungen  |  VI. Weitere Beunfde & Zusammenfassung  |  VII. Präventionsarbeit

Inhalt Teil V

Die in verschiedenen Studien erhobene "Beanspruchung auf dem (Arbeits-) Weg" scheint als ein Indikator für das Vorhandensein einer verzerrten Gefährlichkeitseinschätzung dienen zu können. Hier werden verschiedene Befunde dazu dargestellt und eingeordnet.

  1. 17. Beanspruchung auf dem Arbeitsweg
  2. 18. Beanspruchung als Indikator für Fehlurteile bzgl. der Gefährlichkeit
    1. 18.1 Beanspruchung je Straßenart und Verkehrsmittel
    2. 18.2 Beanspruchung je Fortbewegungsgeschwindigkeit
    3. 18.3 Beanspruchung je Tageszeit
  3. 19. Zusammenfassung Teil V
  4. Literatur

17. Beanspruchung auf dem Arbeitsweg

Das Konzept der Beanspruchung (als Ergebnis einer psychischen Belastung) ist recht etabliert: Hoyos & Kastner (1986) haben sich bereits sehr ausführlich mit der Beanspruchung auseinandergesetzt, denen Autofahrer:innen im Verkehr unterliegen. Sie grenzen diese vom alltagstauglichen Begriff "Stress" ab und definieren in Übereinstimmung mit Hacker & Richter (1980, S. 15) "psychische Beanspruchung [als] das In-anspruchnehmen von psychischen Leistungsvoraussetzungen beim Ausführen von [...] Aufträgen unter vorgegebenen [...] Bedingungen [...]". Damit variiert die Beanspruchung "zwischen Unterforderung und Überforderung. [...] Im Bereich der Überforderung würde man sich mit den üblichen Vorstellungen von 'Stress' treffen, im Bereich der Unterforderung von Deprivation sprechen." (S. 8).

Darüber hinaus scheint sie mit subjektiver Gefährlichkeitseinschätzung konfundiert zu sein.

Anmerkungen:

  1. Die nun folgenden Studienergebnisse sind stark verallgemeinert, um den Sperrvermerk der Forschungsberichte nicht zu verletzten. Es werden lediglich Trends wiedergegeben, die Abbildungen zeigen keine "echten" Werte aus den Originalstudien. Allerdings wurde in mehreren Wegestudien mehrere tausend Probanden (repräsentativ für insg. fast 4 Millionen Versicherte) zu ihren Arbeitswegen befragt, den grundsätzlichen Befunde kann also eine gewisse Aussagekraft unterstellt werden.
  2. Die Zusammenhänge von Beanspruchung und Unfallgeschehen sind eher ein "Zufallsfund", die Unterstellung der Korrelation mit einer Verzerrung der Gefährlichkeitseinschätzung ist eine Anfangshypothese. Das ist wissenschaftstheoretisch natürlich problematisch; es handelt sich hierbei erst mal um ein hypothetisches Konstrukt. Um es zu einem validen Indikator weiterzuentwickeln, müssten andereTM eine saubere Hypothesenentwicklung, die testtheoretische Itementwicklung und weitere Untersuchungen durchführen.  

In verschiedenen Wegestudien für mehrere Berufsgenossenschaften wurde die Beanspruchung auf dem Arbeitsweg abgefragt (Item: "Wie häufig fühlen Sie sich auf Ihrem Arbeitsweg zum Beispiel durch Stress, Staus, Zeitdruck oder sonstige Belastungen beansprucht?"), allerdings lag diesen erhobenen Daten keine - zumindest nicht den Proband:innen bekannte - Definition (s.o.) zu Grunde, sie beschränken sich also auf das "Alltagsverständnis von Beanspruchung auf dem Arbeitsweg" der befragten Versicherten. Die Daten lassen deutliche Trends erkennen: Aus verschiedener Verkehrsteilnahme resultiert eine unterschiedliche Beanspruchung.

Wenn man versucht, etwaige Gruppenunterschiede (Alter, Geschlecht, Wohnort, Art der Verkehrsteilnahme) in der Häufigkeit subjektiven Beanspruchungserlebens zu kennzeichnen, fällt als erstes ein (geringer) Geschlechterunterschied zwischen Frauen und Männern auf: Das Beanspruchungsmittel der Frauen liegt höher als das der Männer. Männer fühlen sich demnach weniger häufig durch den Weg beansprucht - vermutlich ist aber auch die Belastung der Frauen durch weitere Tätigkeiten, die sie mit dem Arbeitsweg verbinden, objektiv größer: Männer verneinen überwiegend die Frage nach einer weiteren Nutzung des Arbeitswegs, Frauen bejahen diese weit häufiger (Angaben vor allem: "Einkaufen/Besorgungen", "Kind(er) wegbringen/abholen"). Hier findet sich eine Variante des damals noch unbekannten, heute breit diskutierten Konzeptes des "Mental Load", der - je nach Familiensituation und Rollenbild - bei Frauen meist höher ist, als bei Männern (vgl. Cammarata, 2020).

Bei der Untersuchung der Beanspruchungshäufigkeit je Wegelänge bestätigt sich ein in der einschlägigen Literatur gut belegter Zusammenhang. Während bei kurzen Wegen von weniger als 5 Kilometern noch etwa die Hälfte der Befragten angeben, der Weg beanspruche sie "nie" (1), sagt dies ab einer Streckenlänge von 100 Kilometern kein:e Befragte:r mehr. Und ab einer Entfernung von 150 Kilometern gibt es nur noch Urteile von "4" und mehr. Für Populationen mit überdurchschnittlich weiten Arbeitswegen lässt sich auf einer Ordinalskala von 1 bis 6 ein Median in der Kategorie 3 feststellen. Über ein Viertel der Versicherten mit überdurchschnittlich weitem Arbeitsweg ordnet sich selbst in der oberen Hälfte der Beanspruchungsspanne (Skalenwerte 4 bis 6) ein.

Schematische Darstellung des Zusammenhangs von subjektiv erlebter Beanspruchung und Länge des Arbeitsweges. Ansteigend von 1 (= "nie"; grün) bis 6 (= "sehr oft"; rot) steigt die mittlere Beanspruchung bei ansteigenden Wegelängen: Je länger der Weg, desto häufiger wird er als beanspruchend erlebt.

18. Beanspruchung als Indikator für Fehlurteile bzgl. der Gefährlichkeit

Um die Frage zu beantworten, welcher Zusammenhang zwischen der subjektiven Beanspruchungshäufigkeit und dem Unfallgeschehen besteht, sollen ein paar Überlegungen zum Konzept der Beanspruchung vorangestellt werden: So ist grundsätzlich festzuhalten, dass die Beanspruchung von Verkehrsteilnehmern eine "psychische Aktiviertheit" abbildet, welche analog zu Hoyos' & Kastners Konstrukt zwischen einer Form von Unter- und Übermäßigkeit aufgespannt ist. Mit dieser Aktiviertheit geht plausiblerweise und analog zu gängigen Aktivierungstheorien (vgl. z.B. Lanc, 1999) eine sympathische Innervation des vegetativen Nervensystems einher, welche sich u. a. in erhöhter Adrenalinausschüttung und gesteigerter Aufmerksamkeit zeigt. Diese Beziehung von Beanspruchung zur "Aufmerksamkeit im Straßenverkehr" legte eine Untersuchung einer möglichen Konfundierung von Variablen, die in Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko identifiziert wurden, und der Beanspruchung nahe.

18.1 Beanspruchung je Straßenart und Verkehrsmittel

Zur Untersuchung potentieller Zusammenhänge zwischen Beanspruchung und Unfallgeschehen wurden die mittleren Beanspruchungshäufigkeiten je genutzter Straßenart untersucht. Tatsächlich deutete sich auch hier ein Zusammenhang zwischen Beanspruchung und Verkehrsteilnahmevariablen im Sinne einer komplexen Wechselwirkung an: Bei den Versicherten, die den größten Teil der Verkehrsbeteiligungsdauer (analog dazu: größter Streckenanteil) im Stadtverkehr verbringen, lag die durchschnittliche Beanspruchung niedriger als bei der Nutzung von Landstraßen und dort wiederum niedriger als bei der Nutzung von Autobahnen. Dieser Befund ließ sich in verschiedenen Studien mehrfach und regelmäßig replizieren: Die empfundene Beanspruchung korreliert scheinbar mit der gefahrenen Geschwindigkeit - also: Je schneller gefahren wird, desto häufiger wird Beanspruchung erlebt oder zumindest auf Befragen bekundet.

Mittleres Beanspruchungserleben je Straßenart (differenziert nach den größten Zeit- bzw. Streckenanteilen am Arbeitsweg) und je (Haupt-) Verkehrsmittel. Stadtverkehr wird als am wenigsten belastend erlebt, das Fahren auf Autobahnen führt dagegen zu hoher Beanspruchung. Der Fußweg und das Fahrrad werden am wenigsten belastend erlebt, motorisierte Fortbewegung beansprucht dagegen stark.

Dafür spricht auch, dass das "Zu-Fuß-Gehen" und das Radfahren die am wenigsten beanspruchenden Fortbewegungsarten waren (Stand: 2005!). Ob das heute - vor dem Hintergrund der "Mobilitätswende"-Diskussion, dem Vormarsch des Rades (auch durch E-Bikes und Pedelecs) und Bewegungen wie #MdRzA & #Autokorrektur - noch so feststellbar wäre, ist unklar. Die (versuchte) Zurückdrängung des Automobils als dominantes Verkehrsmittel führt auch zu heftigeren Auseinandersetzungen zwischen Autofahrer:innen einerseits und Fußgänger:innen und Radfahrer:innen andererseits, so dass auch bei diesen Fortbewegungsarten evtl. heute eine höhere Beanspruchung feststellbar sein könnte.

Ein Zusammenhang von Beanspruchung mit körperlicher Anstrengung konnte zumindest damals ausgeschlossen werden 😉 PKW- und Motorradfahrer einerseits und Nutzer des ÖPNV andererseits erlebten den Arbeitsweg dagegen als stärker beanspruchend. Auf Grund der "passiven Verkehrsteilnahme" im Falle des ÖPNV kommt diesem hier u. U. eine Sonderstellung zu, so dass aber festgehalten werden kann: Der motorisierte Individualverkehr scheint ein höheres Beanspruchungserleben als die nicht-motorisierten Fortbewegungsarten mit sich zu bringen.

Dieser Teil der Ergebnisse muss allerdings unter Berücksichtigung so genannter Selbstselektionseffekte interpretiert werden: Wenn das Autofahren zu belastend ist, wird wahrscheinlich - soweit möglich - der ÖPNV oder andere Verkehrsmittel genutzt und umgekehrt. Zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren diejenigen, für die dies a) keine Belastung darstellt und die b) die körperliche Bewegung als positiv empfinden. Das spiegelte sich auch in den Wegestudien entsprechend in den angegebenen Begründungen für die Verkehrsmittelwahl wider. In einer Befragung von Verkehrsteilnehmer:innen durch Stadler, Strobel & Lau (2000) wurde festgestellt, dass sowohl PKW-Nutzer als auch ÖPNV-Nutzer das jeweils eigene Verkehrsmittel als weitaus weniger "stressig" empfinden als die Alternativen - ein Befund, der sich oft bei den Argumenten für die Verkehrsmittelwahl zeigte: Bequem und kostengünstig ist die eigene Wahl, welche auch immer das ist.

18.2 Beanspruchung je Fortbewegungsgeschwindigkeit

Dass "schnell" intuitiv für "gefährlich" gehalten wird und "langsames Fahren" offenbar den Eindruck von Ruhe und Ungefährlichkeit vermittelt, entspricht nicht den oben dargestellten Unfallzahlen je Straßenart (vgl. Teil II, Kapitel 6), aber durchaus den kognitiven Prinzipien der Urteilsverzerrung durch Heuristiken. Die Gegenüberstellung von Beanspruchung (der Studienteilnehmenden) und Unfallzahlen (der Gesamtbevölkerung) ist dementsprechend aussagekräftig, sind die beiden Trends in Abhängigkeit von der Geschwindigkeit doch zueinander umgekehrt proportional.

Je "schneller die Straße", desto höher ist die Beanspruchung, aber desto geringer ist auch die Unfallzahl. Dieser umgekehrt-proportionale Befund lässt sich mit der fehlerhaften Gefährlichkeits-Klassifikation erklären.

Ähnlich verhält es sich mit der Beanspruchung je Verkehrsmittel: Die hier am unbeschwertesten erlebten Verkehrsmittel entsprechen denen, die in den Wegestudien am stärksten unfallbelastet waren (hier: Verunglücktenrate je 1 Mio. km.; s. dazu den Exkurs zur Datenlage der BGen unten). Dass gerade die langsamen, selten als beanspruchend erlebten Fortbewegungsarten des Gehens und Radfahrens zu solchen gehören, die wir alle seit vielen Jahren "beherrschen" - also völlig routiniert "abspulen", ohne besonders darüber nachzudenken, scheint für die Gültigkeit der Gefahrenkognitionshypothese zu sprechen.

Die Einschätzung von "Schnelligkeit" als "gefährlich" führt vermutlich zu Beanspruchung und Umsicht - und so zu weniger Unfällen. Je langsamer die straßenspezifische Geschwindigkeit und das Verkehrsmittel, desto geringer die Beanspruchung und desto höher das Unfallrisiko.

Bei dem oben (Kapitel 17) dargestellten Zusammenhang von Wegelänge und Beanspruchung spielen diese Zusammenhänge hinein: Je länger der Weg, desto eher wird er motorisiert, mit dem Auto, auf der Autobahn zurückgelegt. Ob die Wegelänge, die Straßenart, das Fortbewegungsmittel, die Geschwindigkeit oder alle Bedingungen gleichzeitig wirken, wäre weiter zu untersuchen.

Exkurs: Die schwierige (Daten-) Lage der BGen

Wie bereits oben erwähnt, ging es bei den Wegestudien der FoGS für die Berufsgenossenschaften um die Arbeitswege der bei ihnen versicherten Arbeitnehmenden. Die BGen sind datentechnisch in einer schwierigen Lage: Sie wissen erstaunlich wenig über ihre Versicherten. Die Versicherungsbeiträge (der arbeitgebenden Unternehmen) setzen sich aus den Gefahrtarifen und -klassen (in Abhängigkeit der Unfallgefahr je nach Haupttägigkeitsfeld der Unternehmen) und aus einem Faktor je nach Höhe der ausgeschütteten Löhne und Gehälter der Unternehmen zusammen. Ein Betrieb, der Werbe-Kugelschreiber in HomeOffice-Tätigkeit zusammenschrauben lässt, also wenig Unfallrisiko aufweist und vergleichsweise geringe Gehälter ausschüttet, zahlt für die Versicherung seiner Angestellten sicherlich weniger als ein Unternehmen, dessen Mitarbeitende untertage in der Uranerzgewinnung (= eine der höchsten Gefahrklassen) unter höherem Unfallrisiko, aber auch für eine höhere Bezahlung arbeiten.

Der Nachteil: Wie genau die ca. 65 Mio. Versicherungsnehmer:innen des Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung e. V. (DGUV, Spitzenverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften und der Unfallkassen) innerhalb der 3,8 Mio. Unternehmen und Einrichtungen (Zahlen von 2022, vgl. DGUV, o.D.) strukturiert sind, welche soziodemografischen Eckdaten sie aufweisen, und: wie sie ihre Arbeitswege gestalten, wie lang diese sind, zu welchen Tageszeiten und auf welchen Straßenarten mit welchen Verkehrsmitteln sie zurückgelegt werden u.v.m., wissen weder der DGUV noch die einzelnen BGen so genau.

Daher begann jede der Wegestudien mit einem ausgeklügelten Stichprobendesign, um eine repräsentative Gruppe von Versicherten einer BG entsprechend zu erreichen und zu ihrem Wege- und Unfallgeschehen zu befragen.

Eine weitere methodische Herausforderung - die aus der oben genannten dünnen Datenlage erwächst - ist das Hantieren mit absoluten Unfallzahlen oder den sog. 1.000-Mann-Quoten (hier: Wegeunfälle je 100.000 Versicherte). Eine Relativierung des Unfallgeschehens auf Teilstichproben oder die Verkehrsexposition (Relation des Unfallgeschehens zu Zeit oder Strecke der Verkehrsteilnahme i.S.v. "der potentiellen Gefahr ausgesetzt sein", in Form von "Unfälle je 1 Mio. km" oder "1 Mio. Std.") konnte (Stand: 2005!) aufgrund fehlender Daten gar nicht vorgenommen werden. Daher war die (gesetzlich geforderte!) Präventionsarbeit oft wenig spezifisch und nicht zielgruppenorientiert, im schlimmsten Fall fehlgeleitet, da "echte" Risikogrupen übersehen werden.

18.3 Beanspruchung und Tageszeit

Außerdem fand sich in den erhobenen Daten ein weiterer interessanter Befund: Versicherte, die ihre Auto-Arbeitswege am Tag (zwischen 7 und 22 Uhr) absolvieren, weisen eine durchschnittlich höhere Beanspruchung auf als solche mit "Auto-Nachtwegen" zwischen 22 und 7 Uhr. Das Arbeitswege-Verkehrsgeschehen ist - je nach Beschäftigtenstruktur, Arbeitsverhältnis und Branche - auch abhängig von der Tageszeit der Verkehrsteilnahme. Die beiden "Peaks" zwischen 6 und 9 Uhr und 16 und 18 Uhr (vulgo: "Berufsverkehr") besitzen anekdotische Evidenz. Setzt man die Unfallzahlen, die in absoluter Häufigkeit tagsüber (aufgrund der deutlich häufigeren Tagfahrten) viel höher sind als nachts, in Relation zur Kilometerleistung oder Anzahl der Fahrten, ergibt sich aber ein anderes Bild: Die relative Unfallhäufigkeit ist bei Dunkelheit höher als bei Tageslicht. Die Beanspruchung je Tageszeit ist zur relativen Unfallhäufigkeit je Tageszeit erneut umgekehrt proportional:

Schematische Darstellung des umgekehrt proportionalen Zusammenhangs zwischen subjektiver Beanspruchung und relativer Unfallhäufigkeit je Tagesabschnitt. "Je dunkler, desto entspannter, aber auch desto gefährlicher".

Zum Beispiel entfallen auf den Zeitraum von 0 bis 6 Uhr 10% der Verkehrsleistung der Stichprobe, aber 14% der Unfälle. Daraus resultiert eine relative Unfallhäufigkeit von 14 / 10 = 1,4 (=überproportional, da > 1), für den Zeitraum 12 bis 18 Uhr entfallen 40% der Verkehrsleistung, aber lediglich 30% der Unfälle, wodurch sich ein Quotient von 0,75 (= unterproportional, da < 1) ergibt.

Auch hier entspricht die geringere Beanspruchung evtl. der Unterschätzung der objektiven Gefahr. Denn z.B. durch die gut und weit sichtbaren Scheinwerfer der anderen Autos wird der Eindruck unterstützt, dass alle Risiken gut sichtbar seien. Durch leuchtende Begrenzungspfähle, reflektierende Schilder und entspr. Baum-Markierungen (Alleen, Landstraßen) wird dieser Eindruck evtl. noch verstärkt. Dabei bleiben viele Gefahren und andere Verkehrsteilnehmende (z. B. Fußgänger) für den Betroffenen oft "unsichtbar". Die geringe Beanspruchung bei diesen Fahrten dokumentiert diese vermeintliche Sicherheit recht anschaulich.

19. Zusammenfassung Teil V

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass eine (zu) geringe Beanspruchung der Verkehrssicherheit abträglich zu sein scheint, zumindest aber mit erhöhten Unfallzahlen einher geht. Die Verbindung zur Gefahrenkognitionshypothese scheint plausibel: Niedrige Geschwindigkeiten (sowohl bezogen auf das Verkehrsmittel als auch auf die Straßenart) und Dunkelheit führen über oben beschriebene kognitive Prozesse zu einer fehlerhaften Einschätzung der Gefahr - die subjektive Gefährlichkeit ist unangemessen niedrig. Der Verkehrsteilnehmenden fühlen sich sicher, gering beansprucht, sind aber gleichzeitig - vielleicht deswegen? - einem erhöhten Risiko ausgesetzt.

In zukünftigen Untersuchungen könnte also das Konzept der "Beanspruchung auf Verkehrswegen" als zusätzlicher Indikator für die Wirksamkeit einer fehlerhaften Gefahrenkognition dienen, müsste dafür aber noch weiter evaluiert und systematisch untersucht werden.

Für die Prävention heißt das: Alle drei Aspekte, die intuitive Falschzuordnung von "langsam" und von "dunkel" als für den Verkehrsteilnehmer "sicher" sowie die verzerrte Gefährlichkeitsannahme für die verschiedenen Verkehrsmittel, müssen in verkehrspsychologischen Interventionsmaßnahmen thematisiert und korrigiert werden.

Der Umkehrschluss "Eine hohe Beanspruchung führt zu erhöhter Verkehrssicherheit" muss allerdings ebenso kritisch gesehen werden, da Überbeanspruchung (an der Grenze zu "Stress") als oberes Ende der Beanspruchungsskala ebenso zu Fehlern führt (s. hierzu u. a. Joiko, Schmauder & Wolf, 2002).

 

Dies ist Teil V eines mehrteiligen Artikels.
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Literatur

  • Cammarata, P. (2020). Raus aus der Mental Load-Falle. Weinheim: Beltz.
  • DGUV e.V. (o.D.). Zahlen und Fakten > Versicherte und Unternehmen. Online unter https://www.dguv.de/de/zahlen-fakten/versicherte-unternehmen/.
  • Hacker, W. & Richter, P. (1980). Psychologische Bewertung von Arbeitsgestaltungsmaßnahmen - Ziele und Bewertungsmaßstäbe. In W. Hacker (Hrsg.), Spezielle Arbeits- und Ingenieurspsychologie in Einzeldarstellungen. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften.
  • Hoyos, C. Graf & Kastner, M. (1986). Belastung und Beanspruchung im Straßenverkehr. In Bundesanstalt für Straßenwesen (Hrsg.), Schriftenreihe Unfall- und Sicherheitsforschung Straßenverkehr, 59. Bergisch-Gladbach.
  • Joiko, K., Schmauder M. & Wolff, G. (2002). Psychische Belastung und Beanspruchung am Arbeitsplatz. In Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.), Gesundheitsschutz, 23, Dortmund.
  • Lanc, O. (1999). Aktivation. In R. Asanger, & G. Wenninger (Hrsg.), Handwörterbuch Psychologie (S. 5-6). Weinheim: Beltz PVU.
  • Stadler, P., Stobel, G. & Lau J. (2000). Kurzfristige und langfristige Stressfolgen durch die Fahrt zur Arbeit, Die BG - Fachzeitschrift für Arbeitssicherheit, Gesundheitsschutz und Unfallversicherung, 4, S. 220-226.
Dieser Artikel steht unter der Lizenz CC by-sa 4.0.
Alle Teile als PDF gibt es hier: Gefahrenkognition.pdf

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