Achtung Hirnpflicht!
Martins Blog

Dies ist Teil II eines mehrteiligen Artikels.
Weitere Teile: I. Einleitung  |  III. Attributionsfehler  |  IV. Lerntheoretische Überlegungen  |  V. Beanspruchung  |  VI. Weitere Beunfde & Zusammenfassung  |  VII. Präventionsarbeit

5. Heuristiken und die Mehrdimensionalität des menschlichen Gefährlichkeitsurteils

Urteilsheuristiken sind laut Wikipedia "überschlägige Denkweisen, um schnell zu einer Entscheidung zu gelangen." Bei diesen automatisierten Abkürzungen in Denkprozessen kommt es zu Fehlern, die systematischen Verzerrungen unterliegen. Mehrere Untersuchungen legen für Gefährlichkeitseinschätzungen mehrere Verzerrungsdimensionen nahe, u.a. eine Dimension der "Kontrollierbarkeit" und eine der "Bekanntheit".

Die wohl umfangreichsten Studien zu Heuristiken und Urteilsfehlern stammen von Tversky & Kahneman (1974; s. hierzu auch Kahneman, 2002). Die drei im vorliegenden Zusammenhang wichtigsten Heuristiken sind die der "Repräsentativität und Ähnlichkeit", die der "Verfügbarkeit" und die der "Verankerung und Anpassung". Man muss sich allerdings angesichts der folgenden Liste möglicher Fehler dagegen wehren, diese kognitiven Interpretations- und Ordnungsprinzipien durchweg als nachteilig anzusehen. In den meisten Fällen sind sie nicht nur nützlich und führen auch zu objektiv richtigen Einschätzungen, sondern sind sogar grundsätzlich notwendig: Ohne diese ordnenden Prinzipien wäre die Reizmenge unserer Umwelt nicht zu bewältigen. Die Automation der Prozesse, die zwischen dem Auftreffen eines Umweltreizes auf ein Sinnesorgan und einer Handlung ablaufen, machen Menschen überhaupt erst handlungsfähig.

5.1 Die Repräsentativitäts- und Ähnlichkeitsheuristik

Die Repräsentativitäts- und Ähnlichkeitsheuristik ist eine Klassifikation der Ähnlichkeit: "Trägt A alle, die wichtigsten oder zumindest ähnliche Kennzeichen oder Merkmale wie die Elemente der Klasse B?", formuliert Musahl (1997, S. 59) die zu Grunde liegende Leitfrage. Die Identifikation eines neuen Elements erfolgt über dessen Ähnlichkeitsbeziehungen zu bereits bekannten Ereignissen: Wie sehr stimmt es mit Bekanntem überein bzw. wie gut repräsentiert das neue Element bereits bekannte?

Dabei kann es allerdings zu diversen Fehlern kommen: Die Basisrate und Stichprobengröße kann vernachlässigt, das Zufallskonzept missverstanden werden, die Vorhersagemöglichkeit kann überschätzt werden und eine Gültigkeits-Illusion kann entstehen (Musahl, ebd., S. 59ff.). Für den Straßenverkehr und Verhalten allgemein fungiert die Repräsentativitätsheuristik als "Antwortmaschine" für die "Was ist das?"-Frage. Einkommende Informationen werden umgehend klassifiziert und als bekannt / unbekannt eingestuft. Im Falle einer Repräsentativität einer neuen Information für eine Gruppe bereits vorhandener Informationen können "erprobte" Verhaltensweisen angewandt werden.

Beispiele:

"Steve ist sehr schüchtern und zurückhaltend, immer hilfsbereit, aber wenig an Menschen oder an der Wirklichkeit interessiert. Er ist ein sanftmütiger und ordentlicher Mensch mit einem Bedürfnis nach Ordnung und Struktur und einer Leidenschaft für Details."
- Welchen Beruf hat Steve: Landwirt, Verkäufer, Verkehrspilot, Bibliothekar oder Arzt? (Tversky & Kahneman, ebd., p. 1124; Übers. d. Verf.)

Die Ähnlichkeit der Personenbeschreibung mit dem Stereotyp "Bibliothekar" führt zu einer mehrheitlichen Beantwortung der Frage mit "Bibliothekar", die Beschreibung repräsentiert das bereits bekannte Bild. Dass es 1974 in den Vereinigten Staaten deutlich mehr Landwirte als Bibliothekare gibt, wird dabei nicht berücksichtigt - die Basisrate, auch als "A-priori-Wahrscheinlichkeit" bezeichnet, wird vernachlässigt.

"Eine Stadt wird von zwei Krankenhäusern versorgt. In dem größeren Krankenhaus werden täglich etwa 45 Babys geboren, in dem kleineren Krankenhaus etwa 15 Babys. Wie bekannt, sind etwa 50% aller Babys männlich. Der genaue Prozentsatz schwankt jedoch von Tag zu Tag. Manchmal ist er höher als 50%, manchmal niedriger. Ein Jahr lang hat jedes Krankenhaus die Tage aufgezeichnet, an denen mehr als 60% der Babys Jungen waren. Welches Krankenhaus hat Ihrer Meinung nach mehr solcher Tage verzeichnet?"
- Das kleinere Krankenhaus, das größere Krankenhaus, oder beide gleich häufig? (Tversky & Kahneman, ebd., p. 1125; Übers. d. Verf.)

Die Mehrheit von Versuchspersonen glaubt, dass es in beiden Krankenhäusern unabhängig von ihrer Größe gleich große Schwankungen in der Geschlechterverteilung gibt und beide Häuser gleich viele Meldungen von "Über-60%-Jungengeburten" macht. Abweichungen von einer Normalverteilung sind allerdings in kleineren Stickproben deutlich häufiger zu erwarten, so dass es statistisch sehr wahrscheinlich ist, dass das kleinere Krankenhaus (= kleinere Stichprobe) mehr solcher Meldungen abgegeben würde. Hier wird die Stichprobengröße vernachlässigt.

Menschen gehen davon aus, dass eine Folge von Ereignissen, die durch einen Zufallsprozess erzeugt wird, die wesentlichen Merkmale dieses Prozesses repräsentiert, selbst wenn die Folge kurz ist. Bei der Betrachtung des Werfens einer Münze für Kopf (H[ead]) oder Zahl (T[ail]) halten die Menschen beispielsweise die Folge H-T-H-T-T-H für wahrscheinlicher als die Folge H-H-H-T-T-T, die nicht zufällig erscheint, und auch für wahrscheinlicher als die Folge H-H-H-H-T-H, die nicht die 'Fairness der Münze' repräsentiert. (Tversky & Kahneman, ebd., p. 1125; Übers. d. Verf.)

Das "Konzept Zufall" leidet unter einem großen Missverständnis - vor allem im alltäglichen Sprachgebrauch. Im Alltagsgebrauch hat das Wort eine Bedeutung von "auffälliges Geschehen, dass sich nicht so recht aus dem gewohnten Verlauf der Dinge heraus erklären lässt" (Klein, 2004, S.25). Wir nutzen es z.B., wenn eine Person just in dem Moment anruft, in dem man an sie denkt, oder wenn wir eine:n Freund:in unabgesprochen im Urlaub hunderte Kilometer von der gemeinsamen Heimatstadt treffen: "Was für ein Zufall!" sagen wir, mit leicht verwundertem Unterton, meinen aber eigentlich "Wie winzig ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass das gerade passiert". Damit wird also eher eine krasse Unwahrscheinlichkeit statt eines Zufalls beschrieben.

Für Mathematiker:innen und Statistiker:innen ist Zufall dagegen ein sehr strenges Konzept: Alle Möglichkeiten haben exakt die gleiche Eintretenswahrscheinlichkeit. Beim Münzwurf (Kopf/Zahl) oder beim Roulette (Rot/Schwarz) muss nicht nach sieben Mal Kopf oder sieben Mal Rot - quasi zum Ausgleich - nun aber auch mal Zahl bzw. Schwarz eintreten (sog. Spielerfehlschluss). Vielmehr besteht auch beim achten (oder 1.873sten) Münzwurf wieder die gleiche Wahrscheinlichkeit von .5 für Kopf und .5 für Zahl.

Das "Missverständnis des Zufallskonzeptes" im Sinne der Repräsentativitätsheuristik mein also die menschliche Erwartung, dass die wesentlichen Merkmale des Prozesses nicht nur "global in der gesamten Sequenz, sondern auch lokal in jedem seiner Teile dargestellt werden" (Tversky & Kahneman, ebd., p. 1125; Übers. d. Verf.).

5.2 Die Verfügbarkeitsheuristik

Die Verfügbarkeitsheuristik ist zuständig für Urteile auf Grund des eigenen Wissens und besonders dann wirksam, wenn dieses Wissen schnell und leicht erinnerbar ist: "Es ist plausibel anzunehmen, dass Ereignisse, von denen man noch nie etwas gehört hat, seltener sind als solche, für die man eine ganze Reihe von Beispielen kennt" (Musahl, ebd., S.65ff.). Diese kognitive Verfügbarkeit von Vergleichsinformationen berücksichtigt allerdings nicht in allen Fällen sinnvolle Annahmen zur Wahrscheinlichkeit oder Häufigkeit: "Logic and probability are mathematically beautiful and elegant systems. But they do not describe how actual people [...] reason" (Etwa: Aus mathematischer Sicht sind Logik und Wahrscheinlichkeit schöne und elegante Systeme. Aber sie beschreiben nicht, wie Menschen wirklich urteilen.), beschreiben Gigerenzer & Gaissmaier (2004) das Missverhältnis.

So können die Erinnerbarkeit, Vorstellbarkeit und Handhabbarkeit von Beispielen sowie die (Un-) Wirksamkeit von Suchstrategien (Musahl, ebd., S.65ff.) zu Fehlurteilen führen. Die Verfügbarkeitsheuristik beantwortet die Frage "Kenne ich das?" nach Maßgabe des Abgleichs von Neuem mit Bekanntem und der Berücksichtigung einer subjektiven Wahrscheinlichkeitsschätzung auf der Basis der Vorstellbarkeit.

Beispiele:

Glücksspieler:innen neigen in Spielhallen mit vielen Geldspielautomaten z.B. eher dazu, ihren Automaten mit weiterem Geld zu füttern, wenn sie ab und zu andere Personen beim Gewinnen beobachten, da sie ihre eigenen Chancen dann höher einschätzen: Sie haben die Gewinnmöglichkeit "verfügbar" (sinngem. hier entnommen).

oder

Die Wahrscheinlichkeit eines Flugzeugabsturzes wird meist überschätzt, da Berichte darüber in Medien verbreitet werden. Über die deutlich häufigeren Tode durch Herzinfarkt oder Krebs wird dagegen nicht berichtet, die Verfügbarkeit ist daher gering.

Die Erinnerbarkeit von Ereignissen ist abhängig von Vertrautheit und Häufigkeit, aber auch von direktem oder indirektem Erleben (Ein Feuer oder Feuerwehreinsatz ist einfacher erinnerbar, wenn man ihn gesehen hat, statt "nur" davon zu hören oder zu lesen) und zeitlicher Nähe (Kürzlich geschehene Ereignisse sind besser erinnerbar als länger zurückliegende).

Bei der Verfügbarkeit spielen auch "Nachrichten-Selektion" durch Medien, personalisierte Ergebnisse von Suchmaschinen oder die Ventilierung spezieller Themen und Thesen in algorithmisch kuratierten "Timelines" Sozialer Medien eine Rolle (auch wenn die Filterblasen- oder Echokammer-Theorie umstritten ist); außerdem die "Nachrichten-Seltenheit": Wenn man sich nicht verfügbare Ereignisse nur schwer vorstellen kann, ist das auch für die Präventionsarbeit (nicht nur in Arbeits- und Verkehrssicherheit) relevant: Wenn ich niemanden mit Brust- oder Prostatakrebs kenne, scheint es wenig sinnvoll, zur Vorsorgeuntersuchung zu gehen (gleiches gilt für die Nutzung von Fahrradhelmen, Anschnallgurten, Handläufen, etc.).

Und wenn Sie das nächste Mal im Supermarkt vor dem Regal mit den 87 verschiedenen Spülmitteln stehen - fragen Sie sich einmal, ob ihre Auswahl nicht von "Das nehmen wir immer" oder "Die Marke kenne ich aus der Werbung", also durch die höhere Verfügbarkeit beeinflusst ist.

5.3 Die Verankerungs- und Anpassungsheuristik

Die dritte wirksame Heuristik ist diejenige der Verankerung und Anpassung. Der "Startpunkt" einer Überlegung fungiert als "Anker" für deren gesamten Verlauf des weiteren Kognitionsprozesses. Somit wird das Bezugssystem zur Einflussgröße, die auf Einschätzungen und Urteile wirkt. Dabei kann es zu drei Arten von Fehlern kommen: Unzureichende Anpassung, Übergenauigkeit und fehlerhafte Wahrscheinlichkeitsbeurteilungen (Musahl, ebd., S. 69ff.) beeinflussen das subjektive Urteil.

Die Verankerungs- und Anpassungsheuristik beantwortet die Frage "Kann ich das?", fragt also nach der persönlichen Erfahrung mit diesem Ereignis, wobei es zu Fehleinschätzungen der eigenen Kompetenzen kommen kann.

Beispiele:

"In einem Experiment wurden Studenten gebeten, ein Glücksrad zu drehen, das zuvor so manipuliert worden war, dass es entweder bei der Zahl '10' oder der Zahl '65' stoppte. Anschließend wurden die Probanden nach dem prozentualen Anteil der afrikanischen Länder in den Vereinten Nationen gefragt. Dabei zeigte sich, dass bei den Probanden, bei denen das Glücksrad auf der Zahl '10' stehen blieb, durchschnittlich den Anteil auf 25% schätzen, während die, bei denen das Rad bei '65' stehen geblieben war, im Durchschnitt die Antwort 45% schätzten" (Stangl, o. D.).

oder

"Manche Sportwettenanbieter nutzen den Ankereffekt durch den Einsatz verlockender Zahlen in ihren Werbungen, die diese dann auf der Startseite ihres Wettportals zeigen, sodass sich diese Zahlen bei den Besuchern der Website als Anker im Gehirn einprägen. So kann man dort etwa lesen, dass ein Wettfreund mit nur fünf Euro Einsatz mehrere tausend Euro Gewinn erzielt hat, selbst wenn die Wetterin oder der Wetter dabei genau weiß, dass dies nur in den seltensten Fällen gelingen kann, bleiben diese Zahlen im Gedächtnis" (Stangl, ebd.).

Während z.B. im Marketing Anker absichtlich dafür gesetzt werden, um den weiteren Kognitionsprozess in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen, geht es in der Sicherheitsforschung eher um unabsichtliche Anker, z.B. eine scheinbar leere und gefahrlose Landstraße in der Dämmerung ("schön leer hier, nichts los" als fehlerhafter Anker), die zu einer Unterschätzung der Gefährlichkeit für sich und andere führt. Die dann doch plötzlich auftauchende Radfahrerin oder der Fußgänger kommt dann meist "aus heiterem Himmel".

Die meist "unzureichende Anpassung" (Tversky & Kahneman, ebd., p, 1128: "insufficient adjustment"), der die Einschätzung unterliegt, wenn der Startpunkt (Anker, Ausgangsüberlegung) das Urteil stärker beeinflusst als gerechtfertigt wäre, lässt sich leicht an einem Originalexperiment verdeutlichen: Wenn zwei Probandengruppen jew. eine der Rechenaufgaben

8 * 7 * 6 * 5 * 4 * 3 * 2 * 1 = ____

oder

1 * 2 * 3 * 4 * 5 * 6 * 7 * 8 = ____

nur für jew. 5 Sekunden dargeboten wurden (also deutlich zu kurz, um sie auszurechnen) und sofort ein Ergebnis eingefordert wird, wird von links nach rechts begonnen zu rechnen und - nach Ablauf der Zeit - der Rest der Aufgabe überschlägig geschätzt. Probanden aus der Gruppe 1 schätzten im Mittel das Ergebnis auf 2.250, Probanden der Gruppe 2 auf 512. Beide waren also vom richtigen Ergebnis (40.320) sehr weit entfernt, aber die Berechnung der ersten zwei, drei oder vier Schritte setzten einen Anker für die dann folgende Schätzung. Kurz: Die gegebene Informationsmenge war für beide Gruppen gleich, allerdings variierte der Anker und beeinflusste die endgültige Schätzung.

6. Wirkweise der Heuristiken am Beispiel des Straßenverkehrs

Beim Verkehrsverhalten am Beispiel des Autofahrens wirken alle drei beschriebenen Heuristiken gemeinsam. Die Repräsentativitätsheuristik ("Was ist das?") "hilft" dabei, dass - wahrscheinlich direkt ab etwa der bestandenen Fahrprüfung - in den seltensten Fällen eine völlig neue Situation die oder den Fahrer:in (über-) fordert. Die Fahrstunden haben viele Bereiche des Verkehrs abgedeckt, man "kennt" Stadtverkehr, Überlandfahrten, die Autobahn mit ihren jeweils typischen Geschwindigkeiten und "klassischen" Situationen. Man hat Regen- und Nachtfahrten hinter sich und hat die ersten "brenzligen" Situationen bewältigt, sich durch ein kompliziertes Autobahnkreuz gewunden und im Stau gestanden. Die Einschätzung "Das ist neu!" wird sehr schnell sehr selten.

Getöteten- und Verletztenzahlen für das Jahr 2022 (BMDV, 2023, S 163). Die angegebenen Werte für Bundes- und Landesstraßen wurden hier zu "Landstraßen" zusammengefasst, Kreis- und Gemeindestraßen zu "Stadtverkehr". Die "glatten" Zahlen für Verletzte resultieren aus der Angabe "in 1000" in der Datenquelle.
Straßenart Getötete Schwerverletzte Leichtverletzte
Autobahn 314 4.800 23.300
Landstraßen 1.359 24.000 113.100
Stadtverkehr 1.115 28.900 165.100

Ein typisches Beispiel für einen Urteilsfehler im Sinne der Repräsentativitätsheuristik ist z. B. die Zuschreibung "gefährlich!" an hohe Geschwindigkeiten und - im logischen Umkehrschluss - "ungefährlich" an langsame Fortbewegung. Die Unfallzahlen und Verletzten- und Getötetenquoten sprechen dagegen eine völlig andere Sprache: Im Stadtverkehr passieren die meisten Unfälle, gefolgt von der Landstraße. Die Autobahn ist dagegen die am wenigsten unfallbelastete Straßenart. Dass höhere Geschwindigkeiten oft als gefährlicher eingeschätzt werden, korrespondiert eher mit der subjektiven Beanspruchung (s. auch Teil V): Je schneller, desto anstrengender.

Die Verfügbarkeitsheuristik ("Kenne ich das?") wirkt bei weiteren "Verwechselungsfehlern und unbegründeten Kompetenzzuschreibungen" (Musahl, ebd., S. 99) mit: Das Überstehen von "brenzligen" Situationen im Verkehr wird nicht auf die statistische Seltenheit des Phänomens "Unfall" zurückgeführt, sondern auf das eigene Können. Jeder hat mehr oder weniger gefährliche "Beinahe-Unfälle" schadlos überstanden, was man einerseits der eigenen Kompetenz zuschreibt (s. dazu auch Teil III), andererseits für die Einschätzung darauf folgender Gefahrensituationen "gut gebrauchen" kann, dann allerdings in Form eines "Das kenne ich schon!".

Besonders in der Zeit von November bis Februar, der sog. "kalten Jahreszeit", häuften sich (zumindest war es im Jahr 2006 noch so) die Nachrichten über die Massenkarambolagen auf Autobahnen: Massenunfälle und Bilder von zerstörten Autos kennt man aus den Nachrichten (= hat man verfügbar), meist in Zusammenhang mit Autobahnen und unangepasster Geschwindigkeit. Die meisten (auch tödlichen) Unfälle passieren aber auch im Winter im Stadtverkehr oder bei Überlandfahrten. Auch hier unterliegt man evtl. einem Effekt einer "Nachrichten-Selektion".

Hier tut die Heuristik der Verankerung und Anpassung ("Kann ich das?") das Übrige: Auf Grund einer fehlerhaften Verankerung der eigenen Kompetenz an der bisherigen Unfallfreiheit und dem Hang zur Übergenauigkeit bzw. der "Overconfidence" (Bank & Kottke, 2005) glaubt man als "gefahrenerprobter" Verkehrsteilnehmer vor allem an seine eigenen Fahrkünste. Das "Selbstbild (wird) mit jeder 'erfolgreichen' Waghalsigkeit in die Richtung der automobilistischen Unverwundbarkeit 'nachjustiert', also 'angepasst' [...]" (Musahl, ebd., S. 101).

Durch teilweise fehlerhaften Einschätzungen auf Grund wirksamer Heuristiken werden also Fahranfänger:innen über ihre potentielle "Overestimation" (= Überschätzung, vgl. Deery, 1999; Trimpop, 1994; Svenson 1978) in Gefahrensituationen nur unzureichend informiert. Außerdem durch die Poisson-Verteilung von Unfällen bisher unfallverschont, ist eine sog. "Kontroll-Illusion" (s. Teil VI) fast unausweichlich. Bei dieser Betrachtung bleibt der Person aber die Würde als intelligente:r und denkende:r Verkehrsteilnehmer:in, die sie in manchen Fällen der "Risikofreude-" oder "Kick-Sucher-Zuschreibung" verloren hätte.

7. Systematische Verzerrungen bei Gefahrenbeurteilungen

Die systematischen Fehleinschätzungen von Gefahren haben Lichtenstein, Slovic, Fischhoff, Layman & Combs (1978) in einer Untersuchung nachgewiesen, haben also die Wirksamkeit von Heuristiken bei der Beurteilung von Gefahren "sichtbar gemacht". Die subjektive Einschätzung von Häufigkeiten verschiedener Todesarten lag bei seltenen – Hackenfort (2001, S. 39) nennt sie: "spektakulären" – Ereignissen (z. B. einem Tornado) über der realen Zahl. Viel dramatischer ist allerdings das Gegenteil: Menschen neigen dazu, häufige – Hackenfort: "alltägliche" – Gefahren (z. B. Diabetes, Krankheiten allgemein) zu unterschätzen. Die Ergebnisse werden in der folgenden Abbildung deutlich.

Gegenüberstellung von geschätzter und tatsächlicher Häufigkeit von Todesursachen (beide Skalen logarithmisch): Bei realistischer Einschätzung müssten alle Schätzungen auf der diagonalen Linie liegen. Die gestrichelte Kurvenlinie beschreibt die mittleren Häufigkeitsurteile der Versuchspersonen. Außerdem ist der Quartilabstand (Q1Q3) für die Angaben zu "Lebensmittelvergiftung", "Diabetes" und "Unfälle allgemein" angegeben. Oberhalb der Diagonalen befinden sich also "Überschätzungen", unterhalb "Unterschätzungen". Besonders die Wirksamkeit der Verfügbarkeitsheuristik wird in der "Überschätzung seltener und Unterschätzung häufiger Ereignisse" deutlich. Das "korrekte Urteil" über Autounfälle ist übrigens kein Zeichen einer realistischen Einschätzung, sondern war den Probanden als Orientierung bekannt.
(Quelle: Slovic et. al., 1980, p. 184; modifiziert bei Musahl, ebd., S. 205, Übers. d. Verf.)

Wiederum Slovic, Fischhoff & Lichtenstein (1980) haben außerdem verschiedene "Dimensionen des menschlichen Gefährlichkeitsurteils" identifiziert. Auf insgesamt 18 Sieben-Punkte-Skalen ließen sie 90 "Gefahren" (Aktivitäten, Substanzen, Technologien u. a. ) beurteilen. Eine Faktorenanalyse extrahierte drei wirksame Faktoren bei der Beurteilung ihrer Gefährlichkeit. Faktor I umfasste die Skalen "Kontrollierbarkeit", "Alltäglichkeit", "Globale Bedrohung", "Ernsthaftigkeit der Folgen", "Reversibilität", "Eigene Betroffenheit", "Chronisch vs. Katastrophal", "Tragweite der Folgen", "Gefahrenminderbarkeit" und "Freiwilligkeit"; er wurde zur Kontrollierbarkeit zusammengefasst. Faktor II war geladen durch die Skalen "Beobachtbare Schädigung", "Wissen über das Risiko", "Unmittelbarkeit des Effekts", "Neuheit" und "Kenntnis des Risikos"; er wurde Bekanntheit genannt. Der dritte, in folgender Abbildung nicht abgebildete Faktor beinhaltete die Skala "Umfang des Personenschadens".

Für den vorliegenden Fall der Verkehrsbetrachtung ist besonders interessant, dass alle nachgefragten Verkehrsmittel, hier das Fahrrad, das Motorrad und das Kraftfahrzeug, im unteren linken Sektor – sprich: bzgl. der Gefährlichkeit subjektiv bekannt und kontrollierbar – zu finden sind.

Abbildung von zwei der insgesamt drei identifizierten Faktoren menschlicher Gefahrenurteile. Faktor I (Kontrollierbarkeit) reicht von (subjektiv) kontrollierbaren Haushaltsgeräten bis zu (subjektiv) unkontrollierbaren Kernwaffen. Faktor II (Bekanntheit) reicht von als bekannt/beobachtbar eingestuftem Alkohol bis zu unbekannt/unbeobachtbar wahrgenommener Genforschung.
Dass die Studie aus den USA stammt, schlägt sich z.B. in der subjektiven Bekanntheit und "mittleren" Kontrollierbarkeit von Handfeuerwaffen nieder. Alle Verkehrsmittel (Fahrrad, Motorrad, Kraftfahrzeug) sind im Sektor "bekannt-kontrollierbarer Gefahren" zu finden.
(Quelle: Slovic et. al., 1980, p. 201; modifiziert bei Musahl, ebd., S. 203)

Die Befunde von Slovic et. al. wurden in den Untersuchungen von Oguz (1998), Wiegand (1998), Proyer (2001), Rex-Vogel (2001) und Hackenfort (ebd.) repliziert. In jeweils unabhängigen Studien wurden die Dimensionen des Gefährlichkeitsurteils in Abhängigkeit vom Alter untersucht. Neben interessanten Befunden zu Unterschieden zwischen Gefährlichkeitsurteilen Erwachsener und denen von Kindern ist die Übereinstimmung zwischen den Befunden Slovics et al. und Oguz' bemerkenswert. Trotz zeitlicher (1980 vs. 1998) und räumlicher (USA vs. DE) Differenzen in der Durchführung zeigen auch Oguz' Ergebnisse ein dreidimensionales Gefährlichkeitsurteil (1. "Kontrollierbarkeit"; 2. "Bekanntheit"; 3. "Art des Schadenseintritts") bei 18 – 20-jährigen Berufskollegschüler:innen.

Dabei besonders interessant: Mit 71,5 % Auto-, Motorrad- und/oder Mofa-Führerscheinen in genannter Altersklasse scheint hier das Gefährlichkeitsurteil von "Fahranfänger:innen" abgebildet zu sein. Die Gefährdungsbeurteilungen von "Als Fußgänger:in in der Stadt", "Zebrastreifen", "Autos", "Fahrrad fahren" und "Bus fahren" sind hier von besonderem Interesse: Alle "verkehrsorientierten" Situationen/Ereignisse sind in ihrer Gefährlichkeit als relativ kontrollierbar eingeschätzt worden, wobei der Zebrastreifen, das Busfahren und der Fußweg dabei (plausiblerweise: Hier besteht die Gefährlichkeit im Verhalten anderer) subjektiv weitaus unkontrollierbarer sind als z. B. das Auto. Diese drei sind im Vergleich zum Fahrrad und zum Auto in ihrer Gefährlichkeit auch als weniger bekannt eingestuft worden. Also ist auch hier - wie in der Untersuchung von Slovic et al. - das Auto als besonders bekannt und kontrollierbar bezüglich seiner Gefährlichkeit eingeschätzt worden. Auf dem dritten Faktor, der die Art des Schadenseintritts ("sofort wirksame", "kurzfristige", "beobachtbare vs. späte", "nicht beobachtbare", oder sogar "für folgende Generationen wirksame" Schäden) abbildet, sind alle verkehrsbezogenen Gefährdungen als relativ kurzfristig wirksame Gefährlichkeiten eingestuft worden.

8. Zusammenfassung Teil II

Verschiedene kognitive Ordnungsprinzipien, sog. Heuristiken, sind fehleranfällig und verzerren die subjektive Einschätzung von objektiver Gefahr. Verkehrsbezogene Gefahren werden bzgl. ihrer Bekanntheit und Kontrollierbarkeit systematisch unterschätzt. "Verändere die Gefahrenkognition, indem Du dem Betroffenen ein realistisches, seinem Praktiker-Urteil möglicherweise widersprechendes Urteil von seinen tatsächlichen Gefährdungen vermittelst. Die Folge wird ein angemessenes, 'gefahren-bewußtes' Verhalten sein" hofft Musahl (ebd., S. 421). Diese Dimensionen des Gefährlichkeitsurteils müssen in "Verkehrsverhaltens-Veränderungs-Ansätzen" zwingend berücksichtigt werden. Auch Oguz fordert: "Wenn z. B. Autofahrer die Gefahren des Straßenverkehrs unterschätzen, da sie damit vertraut sind und sie für kontrollierbar halten, Autofahrer also der Kontroll-Illusion unterliegen, müsste ihnen diese Illusion genommen werden. Dies könnte beispielsweise mit Hilfe von computergestützten Fahrsimulationen geschehen" (Oguz, ebd., S. 82).

 

Dies ist Teil II eines mehrteiligen Artikels.
Weitere Teile: I. Einleitung  |  III. Attributionsfehler  |  IV. Lerntheoretische Überlegungen  |  V. Beanspruchung  |  VI. Weitere Beunfde & Zusammenfassung  |  VII. Präventionsarbeit

Literatur

  • Bank, M. & Kottke, N. (2005). Die Auswirkungen von ‚Overconfidence’ auf die Rationalität von Entscheidungen. Unveröffentlichte Hausarbeit am Institut für betriebliche Finanzwirtschaft, Universität Innsbruck.
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  • Deery, H. A. (1999). Hazard and risk perception among young novice drivers. Journal of Safety Research, 30, pp. 225-236.
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  • Hackenfort, M. (2001). Woran erkennen Kinder im Vorschulalter (4 bis 7 Jahre) die "Gefährlichkeit" einer Situation? Eine dimensionsanalytische Untersuchung. Unveröffentlichte schriftliche Hausarbeit im Rahmen der 1. Staatsprüfung für das Lehramt am Institut für Kognition und Kommunikation, Universität Duisburg-Essen.
  • Kahneman, D. (2002). Maps of bounded Rationality: A Perspective on intuitive Judgment and Choice. Rede anlässlich der Verleihung des "Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften", 2002. Online unter https://www.nobelprize.org/uploads/2018/06/kahnemann-lecture.pdf
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  • Klein, S. (2004). Alles Zufall. Die Kraft, die unser Leben bestimmt. Reinbek: Rowohlt.
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  • Slovic, P., Fischhoff, B. & Lichtenstein, S. (1980). Facts and Fears: Understanding perceived Risk. In R. C. Schwing & W. A. Albers Jr. (Eds.), Societal Risk Assessment. How Safe is Safe Enough? (pp. 181-216), New York: Plenum Press.
  • Stangl, W. (o. D.). Ankereffekt. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik, Online unter https://lexikon.stangl.eu/5691/ankereffekt.
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  • Tversky, A. & Kahneman, D. (1974). Judgment under Uncertainty: Heuristics ans Biases. Science, 185, pp. 1124-1131.
  • Wiegand, N. (1998). Untersuchungen zur Struktur des kindlichen Gefährlichkeitsurteils. Unveröffentlichte schriftliche Hausarbeit im Rahmen der 1. Staatsprüfung für das Lehramt am Institut für Kognition und Kommunikation, Universität Duisburg-Essen.
Dieser Artikel steht unter der Lizenz CC by-sa 4.0.
Alle Teile als PDF gibt es hier: Gefahrenkognition.pdf

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