Achtung Hirnpflicht!
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Dies ist Teil III eines mehrteiligen Artikels.
Weitere Teile: I. Einleitung  |  II. Urteilsheuristiken  |  IV. Lerntheoretische Überlegungen  |  V. Beanspruchung  |  VI. Weitere Beunfde & Zusammenfassung  |  VII. Präventionsarbeit

Inhalt Teil III

In diesem Teil werden die Funktionsweise und subjektive Nützlichkeit verschiedener Ursachenzuschreibungen ("Attributionen") und ihre teils systematischen Fehler betrachtet. Danach werden die Mängel "offizieller" Ursachenzuschreibungen in Form von Unfallstatistiken verdeutlicht.

  1. 9. Attributionen
    1. 9.1 Schuldfrage statt Ursachenforschung
    2. 9.2 Schutzreflex und Selbstwert
  2. 10. "Objektive" Unfallursachen
  3. 11. Menschliches Versagen (revisited)
  4. 12. Zusammenfassung Teil III
  5. Literatur

9. Attributionen

Beispiel für die Vermischung von Korrelation und Kausalität 😉
© Timo Elliott, Quelle

"Eine Attribution bezeichnet zunächst nichts anderes als eine Ursachenzuschreibung" (Steins, 2005, S. 94), ist also ein kausal interpretierter Erklärungsansatz für ein beobachtetes Ereignis. Sie sind also ebenfalls heuristische Varianten der Wenn-Dann-Frage, hier ergänzt um die Zuordnung der Verursachung oder: "Wer war das?". Die forschungslogische Unterscheidung zwischen Korrelationen und Kausalitäten findet bei dieser subjektiven Erklärungsleistung oft nicht statt. Die verschiedenen Spielarten des "Cum hoc ergo propter hoc"-Schlusses begegnet einem bei der Durchsicht offizieller, öffentlicher und interner Unfallstatistiken leider recht häufig (s.u.).

Jones und Nisbett haben bereits 1972 festgestellt, dass Beobachter eines Missgeschicks oder Unfalls dazu tendieren, die Ursache beim Handelnden zu suchen. Diese "personale Attribution" steht der üblicherweise "situativen Attribution" des Handelnden gegenüber. Dieses Phänomen wird auch als die "Akteur-Beobachter-Divergenz" (s.u.) bezeichnet (u. a. Steins, ebd., S. 52): Für den Betroffenen liegt die Ursache seines Unfalls in den Umständen und nicht bei sich – denn ein eigener Unfall war auf Grund der Situation quasi unausweichlich, hingegen der eines anderen "dessen eigene Dummheit".

9.1 Schuldfrage statt Ursachenforschung

Im Zusammenhang mit der Akteur-Beobachter-Divergenz ist die Arbeit von Walster (1966) erwähnenswert, in der sie erstmals Tendenzen nachweisen konnte, nach denen Menschen dem Handelnden - im Zweifelsfall auch dem Opfer - die Verantwortung für sein eigenes Unheil zuschieben. Mit einem pauschalen "Das kann mir nicht passieren!" - oder schlimmer: "Das ist der selber schuld!" - distanziert man sich vom beobachteten unglücklichen Geschehensablauf und beteuert sich selbst implizit die eigene Kontrollkompetenz. Mit diesem Schutzmechanismus umgeht man das Eingeständnis, dass man selbst dieser oder einer ähnlichen Gefahr ausgeliefert sein könnte (s.u.). Bei diesem psychohygienisch nützlichen Effekt macht man "das Opfer zum Täter", es ist also eine Art "psychologischer Reflex", vor dem man sich vor allem im vorliegenden Zusammenhang dringend schützen sollte. Denn der verführerische Charme dieser Denkfigur – auch als fundamentaler Attributionsfehler (Ross, 1977) bezeichnet – besteht natürlich darin, dass man sofort eine plausible Problemlösung parat hat: Der Handelnde selbst ist Ursache seines Unglücks – war, sarkastisch formuliert, "seines Glückes Schmied" – man braucht daher keine weiteren Analysen mehr anzustreben.

Flammer (1990) sieht hier die Nähe zum sog. Freiwilligkeitsprinzip: Je mehr "gleichwertige Handlungsalternativen bereitstehen" (S. 54), desto eher kommt es zu einer Personenattribution. "Beispiel: Ein Student meldet sich ‚fahrlässig’ früh zum Anschlussexamen und fällt durch. ‚Geschieht ihm recht, er [...] war gar leichtsinnig’ [...]" lautet die Schuldzuschreibung. Dass die Anmeldung mit Aussicht auf eine attraktive Anstellung geschah, also evtl. keine gleichwertige Handlungsalternative bestand (= keine Freiwilligkeit), wird hier nicht berücksichtigt. Besonders zynisch wird diese Form der Schuldzuschreibung, wenn die Versuchspersonen in Milgrams (1974) (mittlerweile umstrittenen) Gehorsamexperiment - unter dem Eindruck sozialer Abhängigkeit von einer Autoritätsperson - einem von ihnen vermeintlich "unter Strom gesetzten" Probanden Faulheit oder Dummheit, zumindest aber eigene Schuld unterstellen: Schließlich habe dieser sich ja freiwillig zur Teilnahme gemeldet (s. auch Stangl, o. D.).

9.2 Schutzreflex und Selbstwert

Die personale Attribution an Unfallopfer durch den Beobachtenden ist eine sog. selbstwertdienlichen Attribution und hat scheinbar auch den "Vorteil", sich die eigene Vulnerabilität nicht eingestehen zu müssen - vor allem in Fällen von Unfällen, die einem selbst hätten passieren können. Die "Täter-Opfer-Umkehr" dient hier zum Schutz oder zur Wiederherstellung des eigenen Selbstwerts, insbesondere können so kognitive Dissonanzen vermeiden werden, dass eigenes Scheitern nicht prinzipiell auszuschließen ist. Leider greift hier nicht die (negative) Vorbildfunktion aus der sozialkognitiven Lerntheorie nach Bandura (1976): Neben Ähnlichkeit und Attraktivität von Vorbildern (Modellen) ist vor allem die beobachtete positive ("modellierender Effekt") oder negative ("hemmender Effekt") Verhaltenskonsequenz ausschlaggebend für die Übernahme oder Ablehnung der beobachteten Verhaltensweisen. Die Annahme, dass beobachtete negative Konsequenzen riskanter Verhaltensweisen zum Vermeiden solcher führt, wird durch die Abgrenzung "Das kann mir nicht passieren, weil ich ganz anders bin!", also durch die Ablehnung des Modells weitestgehend verhindert.

Selbstwertdienliche Attributionen sollen auch Hilflosigkeit oder mangelnde Selbstwirksamkeit vermeiden helfen: Durch die implizite Selbstversicherung, nicht auch Opfer eines Unfalls werden zu können, da man "alles im Griff" hat, wird die eigene Überzeugung, schwierige Situationen und Herausforderungen aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können, gestärkt.

10. "Objektive" Unfallursachen?

Im vorliegenden Fall der verkehrspsychologischen Betrachtung von Unfallgeschehen ist es dringend geboten, sorgfältig die tatsächlich wirkenden Größen zu erfassen, um die besondere Situation bestimmter "Risikogruppen" zu verstehen und/oder um daraus präventive Maßnahmen für die Zukunft abzuleiten. Vor allem muss verhindert werden, dass eine personale Attribution für Unfälle anderer stattfindet - sowohl bei Verkehrsteilnehmer:innen wie auch bei denen, die Unfälle untersuchen oder mit ihrer Prävention beauftragt sind.

Man muss sich vor Augen führen, dass es - entgegen der differentiell-psychologischen Betrachtung und entgegen der personalen Attribution - in den seltensten Fällen individuelle Merkmale von Mitgliedern einer identifizierten Risikogruppe sind, auf die dieses Risiko zurückgeführt werden kann oder die dieses verursachen. Leider sind allgemeine Unfallstatistiken in diesem Zusammenhang wenig aussagekräftig.

Exkurs: Unfallstatistiken von Polizei, Destatis und BMDV

Im Informationsmaterial des Statistischen Bundesamtes "Unfallgeschehen im Straßenverkehr 2021" (Destatis, 2022, Fachserie mittlerweile zu Gunsten des Datenabrufs via 'Genesis online' eingestellt) heißt es zu Unfallursachen, dass durch die unfallaufnehmende Polizei "unterschieden [wird] nach allgemeinen Ursachen (u. a. Straßenverhältnisse, Witterungseinflüsse, Hindernisse), die dem Unfall und nicht einzelnen Beteiligten zugeordnet werden, sowie personenbezogenem Fehlverhalten (wie Vorfahrtsmissachtung, zu schnelles Fahren usw.), das bestimmten Fahrzeugführern oder Fußgängern - d.h. den Beteiligten - zugeschrieben wird.". Weiterhin heißt es: "Je Unfall können bis zu zwei allgemeine Ursachen angegeben werden. Beim ersten Beteiligten (Hauptverursacher) und einem weiteren Beteiligten sind jeweils bis zu drei Angaben möglich, so dass je Unfall bis zu 8 Unfallursachen eingetragen sein können" (S. 12). Die Tabellen führen u. a. in der Kategorie "Fehlverhalten" die möglichen Abstufungen

  • Verkehrstüchtigkeit
    • Alkoholeinfluss
    • Einfluss anderer berauschender Mittel
    • Übermüdung
    • Sonstige körperliche oder geistige Mängel
  • Ablenkung
  • Falsche Straßenbenutzung
    • Falschfahrt auf Straßen mit nach Fahrtrichtung getrennten Fahrbahnen (Falschfahrer)
    • Benutzung der Fahrbahn entgegen der vorgeschriebenen Fahrtrichtung in anderen Fällen (Einbahnstraße)
    • Verbotswidrige Benutzung der Fahrbahn oder anderer Straßenteile
    • Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot
  • Geschwindigkeit
    • Nicht angepasste Geschwindigkeit mit gleichzeitigem Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit
    • Nicht angepasste Geschwindigkeit in anderen Fällen
  • Abstand
    • Ungenügender Sicherheitsabstand
    • Starkes Bremsen des Vorausfahrenden ohne zwingenden Grund
  • Überholen
    • Unzulässiges Rechtsüberholen
    • Überholen trotz Gegenverkehrs
    • Überholen trotz unklarer Verkehrslage
    • Überholen trotz unzureichender Sichtverhältnisse
    • Überholen ohne Beachtung des nachfolgenden Verkehrs und/oder ohne rechtzeitige und deutliche Ankündigung des Ausscherens
    • Fehler beim Wiedereinordnen nach rechts
    • Sonstige Fehler beim Überholen (z.B. ohne genügenden Seitenabstand)
    • Fehler beim Überholtwerden
  • Vorbeifahren
    • Nichtbeachten des Vorranges entgegenkommender Fahrzeuge beim Vorbeifahren an haltenden Fahrzeugen, Absperrungen oder Hindernissen
    • Nichtbeachten des nachfolgenden Verkehrs beim Vorbeifahren an haltenden Fahrzeugen, Absperrungen oder Hindernissen und/oder ohne rechtzeitige und deutliche Ankündigung des Ausscherens
  • Nebeneinanderfahren, fehlerhaftes Wechseln des Fahrstreifens beim Nebeneinanderfahren oder Nichtbeachten des Reißschlussverfahrens
  • Vorfahrt, Vorrang
    • Nichtbeachten der Regel "rechts vor links"
    • Nichtbeachten der die Vorfahrt regelnden Verkehrszeichen
    • Nichtbeachten der Vorfahrt des durchgehenden Verkehrs auf Autobahnen oder Kraftfahrtstraßen
    • Nichtbeachten der Vorfahrt durch Fahrzeuge, die aus Feld- und Waldwegen kommen
    • Nichtbeachten der Verkehrsregelung durch Polizeibeamte oder Lichtzeichen
    • Nichtbeachten des Vorranges entgegenkommender Fahrzeuge
    • Nichtbeachten des Vorranges v. Schienenfahrzeugen an Bahnübergängen
  • Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren, Ein- und Anfahren
    • Fehler beim Abbiegen
      • nach rechts
      • nach links
    • Fehler beim Wenden oder Rückwärtsfahren
    • Fehler beim Einfahren in den fließenden Verkehr (z.B. aus einem Grundstück, von einem anderen Straßenteil oder Anfahren vom Fahrbahnrand)
  • Falsches Verhalten gegenüber Fußgängern
    • an Fußgängerüberwegen
    • an Fußgängerfurten
    • beim Abbiegen
    • an Haltestellen (auch haltenden Schulbussen mit eingeschaltetem Warnblinklicht)
    • an anderen Stellen
  • Ruhender Verkehr, Verkehrssicherung
    • Unzulässiges Halten oder Parken
    • Mangelnde Sicherung haltender oder liegengebliebener Fahrzeuge und von Unfallstellen sowie Schulbussen, bei denen Kinder ein- oder aussteigen
    • Verkehrswidriges Verhalten beim Ein- oder Aussteigen, Be- oder Entladen
  • Nichtbeachten der Beleuchtungsvorschrift
  • Ladung, Besetzung
    • Überladung, Überbesetzung
    • Unzureichend gesicherte Ladung oder Fahrzeugzubehörteile
  • Andere Fehler der Fahrer

an. Abgesehen davon, dass mir die unfallaufnehmenden Verkehrspolizist:innen leidtun, die evtl. erst die Schlüsseltabelle heraussuchen müssen, um im Feld "Ursache" ein bzw. bis zu acht verschiedene passende Kürzel einzutragen, ist auffällig: Viele "Ursachen" beschreiben dabei den "Vorgang" oder "Begleitumstände", der zum Unfall führte, allerdings weniger den "Grund" (i.S.v. "Warum wurde das entsprechende Fehlverhalten gezeigt?").

Die folgende Tabelle zeigt einen Überblick über die von der Polizei festgestellten "Unfallursachen" im Jahr 2022.

Polizeilich festgestellte Unfallursachen bei Unfällen mit Personenschaden im Jahr 2022 (modifiziert nach BMDV 2023).
Anmerkungen: 1 incl. Rad, auch E-Bikes und Pedelecs; 2 Ablenkung durch Nutzung elektronischer Geräte im Sinne § 23 (1) a) StVO; 3 Technische Mängel, Wartungsmängel
Unfallursachen Anteil (in %)
Ursachen bei Fahrzeugführer:innen1 88,9
  Einbiegen, Ein- oder Ausfahren, Wenden 13,7  
Vorfahrt, Verkehrsregelung 11,9
Zu dichtes Auffahren 11,2
Zu schnelles Fahren 9,8
Falsche Fahrbahnbenutzung 6,3
Überholen, Vorbeifahren 4,8
Alkoholeinfluss 4,3
Falsches Verhalten gegenüber Fußgängern 3,5
Ablenkung2 1,9
Übrige Ursachen 21,5
Gesamt 88,9
Straßenverhältnisse 3,0
Ursachen bei Fußgängern 2,9
Ursachen bei Fahrzeugen1, 3 0,9
Übrige Ursachen 4,3
Gesamt 100,0

Die Klassifikation, z.B. das früher als "Unangepasste Geschwindigkeit" bezeichnete "Zu schnelles Fahren" hat meiner bescheidenen Meinung nach noch immer erhebliche methodische Mängel: Es gäbe keine Verkehrsunfälle, wenn eine beliebig kurze Zeit vor dem Aufprall die Geschwindigkeit aller Beteiligten 0 km/h betrüge; im Moment des Unfalls ist also jede Geschwindigkeit überhöht. Die kritische Frage - als Basis sinnvoller Prävention und/oder Verhaltenseinwirkung - muss doch auch hier lauten: Warum war die Geschwindigkeit überhöht? Viele identifizierte "Unfallursachen" scheinen eher Symptome dahinter liegender unerkannter Ursachen zu sein.

Wenn die Tabelle die "echten Unfallursachen" wiedergeben würde, könnte Prävention tatsächlich nur in Belehrungen der Risikogruppen bestehen, in denen man z. B. den Fahranfängern mit Getötetenzahlen "Angst macht" und ihnen den Sinn eines Tempolimits nahe zu bringen versucht - oder darin, dass man sie schlichtweg aus dem Verkehr ausschließt, bis sie dafür "reifer" geworden sind (was immer das sein mag). Dass solche Aktivitäten kontraproduktiv sind, da sie die Betroffenen eher in der eigenen (nur vermeintlich übermäßigen) Fahrkompetenz noch bestärken, kann man einer Studie von Harré et al. (2005) entnehmen: Sie zeigt die alarmierenden Auswirkungen systematisch unterstützter Attributionsfehler im Rahmen von vermeintlich die Verkehrssicherheit unterstützenden Maßnahmen: Darin wurde die Wirkung von Verkehrssicherheits-Spots auf die Einschätzung der eigenen Kompetenz untersucht - mit dem Ergebnis, dass der sog. "crash risk optimism", also die subjektiv erwartete Wahrscheinlichkeit, nicht in einen Unfall verwickelt zu werden, mit dem Konsum solcher Spots ansteigt. Im Sinne der selbstschützenden Funktion (vgl. Walster, ebd.) einer Schuldzuschreibung an Unfallopfer und Beteiligte wird sich selbst versichert, über genügend Fahrkompetenz zu verfügen, um solche Unfallsituation souverän zu umgehen oder zu meistern: Teilnehmer:innen solcher Belehrungen werden sich ihrer "Fahrkünste" danach sicherer sein, wenn sie lernen, dass überhöhte Geschwindigkeit bei vielen anderen – nur bei ihnen nicht! – zum Unfall oder gar zum Tod führt. Vor diesem Hintergrund sollte die unterstellte Wirksamkeit mancher Verkehrsaufklärungsmaßnahmen noch einmal hinterfragt werden. Diese Erkenntnis lässt sich sicherlich auf andere Formen von "Schock-Bildern" oder "Abschreckungs-Marketing" übertragen.

11. Menschliches Versagen (revisited)

Dass bei der Ursachenangabe von Unfällen und schweren Unglücken oft zwischen "technischem" und "menschlichem" Versagen differenziert wird, ist zusätzlich bedauerlich: Im ersten Fall wird meistens der Ursache des technischen Versagens auf den Grund gegangen, im zweiten Fall - wie in den offiziellen Verkehrsunfallstatistiken - wird häufig das "Versagen" (= Fehlverhalten) an sich als Ursachenangabe als ausreichend angesehen. Abgesehen davon, dass damit ein relativ bescheidenes Menschenbild deutlich und gefördert wird (in dem der Mensch entweder funktioniert oder versagt), kann eine Wiederholung dieser Katastrophe jederzeit wieder eintreten, da die eigentlichen Ursachen weiter im Dunkeln liegen.

Auch Beierle (1995) sieht die Unterteilung von Unfallursachen in Umweltbedingungen, Fahrzeugbedingungen und menschliches Fehlverhalten kritisch: "Verlangen ungünstige Wetterbedingungen nicht eine Änderung des unter 'normalen' äußeren Bedingungen gezeigten Fahrverhaltens?" So müssten die von Destatis bzw. vom BMDV angeführten bzw. von der unfallaufnehmenden Polizei identifizierten, unfallverursachenden "Umweltbedingungen" doch bei korrekter Gefahreneinschätzung automatisch eine Verhaltensänderung nach sich ziehen.

Gleiches gelte für die "Fahrzeugbedingungen". Beierle: "Es mag sich bei einem 'technischen Mangel' um die unmittelbare den Unfall auslösende Ursache handeln, die Verantwortung hierfür liegt aber in den meisten Fällen in einem dem Unfall vorausgehenden Fehlverhalten des Fahrers." Bereifung, Beleuchtung, Bremsen, Lenkung, etc., so die "fahrzeugbezogenen Unfallursachen", unterliegen der Fürsorge der Fahrerin / des Fahrers, die "Tauglichkeit des Fahrzeugführenden" wiederum der Prüfung des Fahrzeughalters /der Fahrzeughalterin - Beierle versichert sich dieser Pflichten durch das Bemühen der Straßenverkehrszulassungsordnung (StVZO, zur Eignung des Fahrzeugführers § 31 (2); zur Fahrtauglichkeit des Fahrzeugs § 19). Vor diesem Hintergrund wird "technisches Versagen" wie auch die "Umweltbedingungen" zu Spielarten des "menschlichen Versagens", ohne jedoch zu hinterfragen, warum der Mensch - besser: seine Gefährlichkeitseinschätzung - in diesem Fall versagt haben.

Als entsprechend problematisch sind neben den Umwelt-, Fahrzeug- und Personenursachen ebenso die "Haupt- und Hintergrundursachen" von Böhm, Schneider, Schubert & Spoerer (1965), die von Shinar, McDonald & Treat (1978) postulierten "direkten und indirekten Unfallursachen" sowie das "detaillierte menschliche Versagen" von Otte, Kühnel, Suren, Weber, Gotzen, Schockenhoff & Han (1982) anzusehen.

12. Zusammenfassung Teil III

Die bereits oben angesprochene und auch weiter unten noch einmal aufgegriffene "Kontroll-Illusion" hat neben heuristischen (s.o.) und lerntheoretischen (s.u.) vor allem attributionale Gründe: Dass man selbst subjektiv vor Unfällen gefeit ist, resultiert u. a. aus der situativen Attribution eigener Erfahrungen - und der personalen Attribution bei beobachteten Schädigungen anderer Personen. Also liegt auch im Bereich der Ursachenzuschreibung eine systematisch verzerrte Beurteilung vor. Die personale Attribution ("Selbst schuld!") an andere Personen steigt mit der Schwere der Unfallfolgen. Die offiziellen Unfallstatistiken beschreiben eher die Vorgänge und Bedingungen, allerdings selten die Ursachen von Verkehrsunfällen. Für die Prävention ist hier wichtig: Reine Aufklärungs- oder "Schock"-Kampagnen können die fehlerhaften Attributionen verstärken, statt die Beteiligten zu sensibilisieren.

 

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Literatur

  • Bandura, A. (1976). Lernen am Modell. Ansätze zu einer sozial-kognitiven Lerntheorie. Klett, Stuttgart.
  • Beierle, B. (1995). Psychologische und technische Analyse von LKW-Verkehrsunfällen. Wiesbaden: Deutscher Universitäts Verlag.
  • Böhm, H., Schneider, W., Schubert, G. & Spoerer, E. (1965). Verkehrsteilnehmergruppen und Verkehrserziehungsmittel. Köln: Forschungsgemeinschaft Mensch im Verkehr.
  • Bundesministerium für Digitales und Verkehr (2023). Verkehr in Zahlen 2023/2024. Online unter https://bmdv.bund.de/SharedDocs/DE/Anlage/G/verkehr-in-zahlen23-24-pdf.pdf?__blob=publicationFile
  • Destatis / Statistisches Bundesamt (2022). Verkehrsunfälle 2021. Fachserie 8 Reihe 7. Online unter: https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Publikationen/Downloads-Verkehrsunfaelle/verkehrsunfaelle-jahr-2080700217004.pdf
  • Flammer, A. (1990). Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung, Bern: Hans Huber.
  • Greenberg, J., Pyszczynski, T. & Solomon, S. (1982). The self-serving attributional bias: Beyond self-presentation. Journal of Experimental Social Psychology, 18, S. 56–67
  • Harré, N., Foster, S. & O´Neill, M. (2005). Self-enhancement, crash-risk optimism and the impact of safety advertisements on young drivers. British Journal of Psychology, 96, pp. 215-230.
  • Jones, E. E. & Nisbett, R. E. (1972). The actor and the observer: Divergent perceptions of the causes of behavior. In E. E. Jones, D. E: Kanouse, H. H. Kelley, R. E: Nisbett, S. Valins & B. Weiner (Eds.), Attribution: Perceiving the Causes of Behaivior (pp. 75-85). Morristown: General Learning Press
  • Milgram, S. (1974): Obedience to authority. New York: Harper & Row.
  • Otte, D., Kühnel, A., Suren, E. G., Weber, H., Gotzen, L., Schockenhoff, G. & Han, V. (1982). Erhebungen am Unfallort. In Bundesanstalt für Straßenwesen (Hrsg.): Schriftenreihe Unfall- und Sicherheitsforschung Straßenverkehr, 37. Bergisch-Gladbach.
  • Ross, L. (1977). The intuitive psychologist and his shortcomings. In: Berkowitz, L. (Ed.): Advances in experimental social psychology, 10 (pp. 173-220), New York: Academic.
  • Shinar, D., McDonald S. T. & Treat, J. R. (1978). The Interaction Between Driver Mental And Physical Conditions and Errors Causing Traffic Accidents: An Analytical Approach. Journal of Safety Research, 1, pp. 16-23.
  • Stangl, W. (o. D.). Milgram Experiment. Online unter https://testexperiment.stangl-taller.at/experimentbspmilgram.html
  • Steins, G. (2005). Sozialpsychologie des Schulalltags. Das Miteinander in der Schule. Stuttgart: Kohlhammer.
  • Walster, E. (1966). Assignment of responsibility for an accident. Journal of Personality and Social Psychology, 3, pp. 73-79.
Dieser Artikel steht unter der Lizenz CC by-sa 4.0.
Alle Teile als PDF gibt es hier: Gefahrenkognition.pdf

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