Achtung Hirnpflicht!
Martins Blog

Dies ist Teil IV eines mehrteiligen Artikels.
Weitere Teile: I. Einleitung  |  II. Urteilsheuristiken  |  III. Attributionsfehler  |  V. Beanspruchung  |  VI. Weitere Befunde & Zusammenfassung  |  VII. Präventionsarbeit

Inhalt Teil IV

In diesem Teil geht es um die lerntheoretischen Grundlagen der operanten Konditionierung bzgl. des Verhaltens in gefahrvollen Situationen - mit einem Fokus auf der negativen Verstärkung. Danach werden die Rolle sog. Beinahe-Unfälle und die lerntheoretische Wirkweise des gängigen Sanktionssystems bei Regelverstößen betrachtet.

  1. 13. Lerntheoretische Überlegungen
    1. 13.1 Missverständnis Negative Verstärkung
    2. 13.2 Negative Verstärkung im Straßenverkehr?
    3. 13.3 Inkonsequente Bestrafung = Negative Verstärkung?
    4. 13.4 Zusammenspiel mit Heuristiken und Attributionen
  2. 14. Das MxOxPxS-Modell und Beinahe-Unfälle
  3. 15. Sanktionen und ihre Folgen
  4. 16. Zusammenfassung Teil IV
  5. Literatur

13. Lerntheoretische Überlegungen

Lernen ist ein "Prozess [...], der zu relativ stabilen Veränderungen im Verhalten oder im Verhaltenspotential führt und auf Erfahrungen aufbaut. Lernen ist nicht direkt zu beobachten. Es muss aus den Veränderungen des beobachtbaren Verhaltens erschlossen werden", schreibt Zimbardo (1996, S. 206). Ohne die Bedeutung der Ansätze des "kognitiven", des "sozialen (Beobachtungs-) Lernens" oder der "klassischen Konditionierung" zu schmälern, soll im Folgenden auf die "operante Konditionierung" fokussiert werden. "Welche äußeren, im Experimentalraum veränderbaren, Bedingungen das Verhalten wirksam beeinflussen", war nach Mietzel (1998, S. 134) eine der Forschungsfragen.

Nach der Skinner'schen operanten Konditionierung werden vier verschiedene lernpsychologische Paradigmen unterschieden. Diese wirken in ihrer Abhängigkeit von Empfang oder Ausbleiben von jeweils subjektiv als "Lob" oder "Strafe" wahrgenommenen Konsequenzen auf Verhaltensweisen - und sind in folgender Tabelle recht anschaulich dargestellt.

Vier lernpsychologische Paradigmen in Abhängigkeit vom Empfang oder Ausbleiben als „Lob“ oder „Strafe“ interpretierter Ereignisse
  Lob (Appetenz-Reiz) Strafe (aversiver Reiz)
Empfang Positive Verstärkung:
Verhalten tritt häufiger auf.
Abschwächung (Bestrafung):
Verhalten tritt seltener auf.
Ausbleiben Löschung (Extinktion):
Verhalten tritt seltener auf.
Negative Verstärkung:
Verhalten tritt häufiger auf.

Die beiden Arten von Verstärkung ziehen hierbei eine Erhöhung der Auftretenswahrscheinlichkeit der entsprechenden Verhaltensweise nach sich, wohingegen Abschwächung und Löschung eine Verringerung der Auftretenswahrscheinlichkeit hervorrufen. In der klassischen Versuchsanordnung zeigten z.B. Ratten eine Verhaltensweise (Drücken eines Hebels) häufiger, wenn eine Futtergabe folgte (positive Verstärkung) und seltener, wenn sie dadurch einem Stromschlag ausgesetzt werden (Bestrafung).

Genauso führt das Ausbleiben einer positiven Konsequenz zur Verringerung der Auftretenswahrscheinlichkeit einer Verhaltensweise: Wenn der Ratte auf das Drücken eines Hebels kein Futter mehr zugänglich wird, also der Appetenz-Reiz ausbleibt, wird das Verhalten immer seltener und schließlich gar nicht mehr gezeigt. Dabei ist zu beachten, dass hiermit eine Erwartungshaltung gegenüber Handlungskonsequenzen verbunden ist. Andersherum führt das Ausbleiben einer Strafe in Folge einer Verhaltensweise (also das Abstellen des Stroms im Käfigboden durch das Drücken des Hebels) zur Steigerung der Verhaltenshäufigkeit (negative Verstärkung).

13.1 Missverständnis "negative Verstärkung"

Gerade das Konzept der negativen Verstärkung ist vielleicht eines der am häufigsten missverstandenen in der Psychologie: Gerne im Sinne einer Bestrafung (also als "mit negativen Mitteln verstärkte Unterlassung eines ungewünschten Verhaltens" oder so?) interpretiert, beschreibt es doch eigentlich eine Verstärkung eines Verhaltens durch den Wegfall (= "negatives Vorhandensein") einer Bestrafung oder ungewünschten Konsequenz. Somit wirken Bestrafung und negative Verstärkung in gegensätzliche Richtungen. Denn wenn eine Bestrafung entfällt, steigt die Auftretenswahrscheinlichkeit des vormals bestraften Verhaltens: Das nun straffreie Verhalten wird somit verstärkt und nicht abgeschwächt. Notwendige Annahme ist dabei aber: Der Organismus hat zuvor gelernt, dass genau diesem Verhalten eine als unangenehm bewertete "Konsequenz" folgt. Notwendig ist also ein "Informationsverarbeitungssystem", das - genau wie bei der "Löschung" - in der Lage ist, eine solche "Erwartung" zu bilden. Besteht diese "Erwartung" nicht, können weder Extinktion noch negative Verstärkung auftreten.

13.2 Negative Verstärkung im Straßenverkehr?

Transferiert man diese Lernparadigmen in den Verkehrsraum, fällt Folgendes auf: Wenn man z.B. an den - durch das Bestehen der Führerscheinprüfung gekennzeichneten - Übergang von Fahrschule zu eigenständiger Verkehrsteilnahme zurückdenkt, wird bei lerntheoretischer Betrachtung klar, dass sich Ausbleiben und Empfangen von Lob und Strafe für verschiedene Verhaltensweisen systematisch verändert hat: War die Fahrstunde von Reaktionen des oder der Fahrlehrer:in (= Verhaltenskonsequenzen für die Fahrschüler:innen) geprägt, indem durch ein Zurechtweisen (aversiver Reiz) oder Lob (Appetenz-Reiz) ungewünschtes Verhalten sanktioniert und gewünschtes Verhalten verstärkt wurde, fallen diese Konsequenzen mit dem Bestehen des Führerscheins schlagartig weg. Dafür werden andere Lernparadigmen wirksam: Das Ausbleiben von Lob (= Extinktion) für "gewünschtes (Verkehrs-) Verhalten" kann zur Unterlassung, das Ausbleiben der Zurechtweisung (= negative Verstärkung) für "ungewünschtes Verhalten" zu seiner Häufung führen.

Gleiches gilt für andere Übergänge von betreuter zu unbetreuter Verkehrsteilnahme und beginnt schon bei der langsamen Steigerung der allein zurückgelegten Fußwegstrecke bei Grundschulkindern. Natürlich soll z.B. der Schulweg mit dem Fahrrad trotzdem mit den eigenen Kindern geübt werden. Aber den Beteiligten sollte klar sein, dass bei jedem Übergang von betreutem Training in die Eigenverantwortlichkeit so ein Kipppunkt entstehen kann: Natürlich wird nicht alles in der Phase der betreuten Verkehrsteilnahme Gelernte ab diesem Punkt kategorisch "vergessen", aber es wirken andere lerntheoretische Mechanismen, z.B. positive Verstärkung durch Selbstwirksamkeitserfahrungen.

13.3 Inkonsequente Bestrafung = Negative Verstärkung?

Daneben werden im Straßenverkehr weitere Mechanismen wirksam. Die Androhung von Strafen in Form von Geldbußen, Führerscheinentzug oder ähnlichen Sanktionen findet nicht konsequent statt: Bestrafung führt - im Gegensatz zu Verstärkung, die auch (oder gerade) intermittierend funktioniert - nur dann zur Unterlassung von Verhaltensweisen, wenn diese kontinuierlich (im Volksmund: konsequent) stattfindet. Also müsste jede Geschwindigkeitsübertretung geahndet werden, jedoch trifft das nur für den kleinsten Anteil zu. Alle Fälle von Regelverstößen, die nicht bestraft werden, führen unweigerlich zu einer negativen Verstärkung, also einer Häufung dieser Verhaltensweisen. Das liegt zum einen daran, dass man ("subjektiv glücklicherweise") der erwarteten negativen Konsequenz entgangen ist, zum anderen an der Tatsache, dass der "Erfolg" des Regelverstoßes nicht nur in z. B. der Bequemlichkeit ("bei Rot gehen") oder dem Zeitgewinn ("zu schnelles Fahren") liegt, sondern "dass man den latenten 'Risiken wieder mal ein Schnippchen geschlagen hat!'", wie es Musahl (1997, S. 167) formuliert, mit "Risiken" hier im Sinne der subjektiv unangenehmen, angedrohten Konsequenzen.

Lerntheoretisch optimal wäre also eine Verkehrskontrolle, in der man für das Einhalten der Geschwindigkeitsbegrenzung einen Bonus (z.B. 50€, das entsprächen der momentanen Sanktion für die Übertretung bis 10km/h) bekäme - und einen weiteren Anteil für das Anlegen des Sicherheitsgurtes (z.B. 30€, entspricht dem Bußgeld für Fahren ohne Gurt). Damit würde man eine (sogar sehr stabile) Verstärkung erreichen, die auch in ihrem intermittierenden Rhythmus (also z.B. nur bei jeder 50sten Fahrt) funktioniert. Dass das wenig praktikabel ist, steht auf einem anderen Blatt 😉

13.4 Zusammenspiel mit Heuristiken und Attributionen

Diese Lernannahmen tragen der oben als elementar für die Einschätzung von Gefahren eingestuften "Erfahrung" Rechnung, und haben außerdem Auswirkungen auf die Funktionsweisen der Heuristiken und Attributionen. Denn jede Erfahrung vergrößert die Menge der zum Vergleich zur Verfügung stehenden Ereignisse im Sinne der Repräsentativitätsheuristik, die Menge und Einordnung von Ereignissen im Sinne der Verfügbarkeitsheuristik und den "Erfahrungsschatz", welcher der Verankerungs- und Anpassungsheuristik zu Grunde liegt. Darüber hinaus zahlen negative Verstärkungen auf die selbstwertdienlichen Attributionen ein: Dass man - mal wieder - einen Regelverstoß "erfolgreich" begangen hat, wird zum Teil auf die eigene Kompetenz zurückgeführt.

14. Das MxOxPxS-Modell und Beinahe-Unfälle

McGrath (1976) modelliert das Verhalten in spezifischen Kontexten bestehend aus a) physikalisch-technischer Umgebung, b) sozialen Bedingungen und c) dem Individuum. Eine Adaption auf den Straßenverkehr führt hier zu einem Gesamtsystem, dass sich aus den Bedingungen "Art der Verkehrsteilnahme" (= physikalisch-technisch), "(Verkehrs-) Regelsystem" (= sozial) und "Mensch" zusammensetzt, also einem Maschine-Organisation-Person-System. Jedes dieser Subsysteme interagiert mit den jeweilig anderen, in MxO (Verkehrsmittel und Regelwerk, z.B. unterschiedliche Geschwindigkeiten, Verkehrsbereiche und Bremswege für unterschiedliche Verkehrsmittel), MxP (Verkehrsteilnehmer:in und Verkehrsmittel, = z.B. Steuerung/Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel unter Berücksichtigung von individueller Kompetenz oder individueller Beanspruchung) und PxO (Verkehrsteilnehmer:in und Regelwerk, z.B. Auswirkungen der Aufmerksamkeit auf die "Regeltreue"). Die Schnittmenge aller drei - MxOxP - beschreibt dann eine einzelne Verkehrssituation.

Um in dieser Betrachtung auch Lernerfahrungen zu berücksichtigen, muss sie um die Erfahrungs- oder Zeitdimension erweitert werden. Das in Anlehnung an Musahl (1997, 1999) entstehende Gefüge von Mensch-Organisation-Person-Situationen (MxOxPxS, in der Arbeitsgruppe salopp "MOPS" genannt) auf einer Zeitachse zeigt folgende Abbildung.

"Verkehrslernen" als systemisches Gefüge aus Maschine, Organisation und Person mit jeweiligen Interaktionen MxO, PxO, MxP und deren Schnittmenge MxOxP (Einzelsituation). Die Erfahrung über die Zeit wird in den verschiedenen erlebten Situationen (S) deutlich und führt zu MxOxPxS-Interaktionen, wobei MxOxPxS2 der Erfahrung von MxOxPxS1 Rechnung trägt usw. (modifiziert nach Musahl 1997, S. 375).

 

Wenn man sich vergegenwärtigt, was passieren muss, damit auch nur eine MxOxPxS-Interaktion einen Lerneffekt im Sinne einer "gesteigerten Vorsicht" mit sich bringt, wird deutlich, dass ein:e Fahranfänger:in - wiederum begünstigt durch die statistische Seltenheit von Unfällen - kaum über genügend einschlägige Erfahrungen verfügen kann: Wenn Person (P) in Situation (Si) mit seinem Auto (M) in seine Wohnstraße einfährt (30 km/h-Zone, Organisationsvariable O), sein Fahrtempo aber lediglich auf etwa 40 km/h - wie fast alle anderen Verkehrsteilnehmer auch - reduziert, verhält er sich entsprechend der implizit gültigen Norm fast aller anderen, auch er fährt in so weit ‚angepasst’ (MxOxPxSi).

Dass er seit der Fahrschulzeit (S1) diverse weitere Situationen (S2 bis Si-1) erlebt hat und auf diese Erfahrung zurückgreift, ist lerntheoretisch plausibel. Diese Erfahrungen können aber nur dann im Sinne von gesteigerter Vorsicht auf Si wirken, wenn sie a) bestraft wurden (also in einem Unfall oder einer polizeilichen Ahndung gemündet sind) oder b) als besonders bedrohlich wahrgenommen wurden. Der erste Fall tritt nur sehr selten ein; im zweiten Fall spricht man von einem (erkannten) Beinahe-Unfall (BU). Ein BU liegt dann vor, wenn "die Akteure die Kontrolle über das Geschehen zurückgewinnen (konnten), bevor es zu einer Kollision kam" (Hoyos, 1980, S. 30). Diese Erfahrungen sind lerntheoretisch besonders bedeutsam: Wird die Brisanz z. B. einer Regelwidrigkeit oder sicherheitswidrigen Verhaltens in einem Beinahe-Unfall deutlich (sprich: erkennt der/die Akteur:in diesen als einen BU), kommt es zur Abschwächung dieses Verhaltens - die "Einsicht" in die eigenen Überforderung und "Unfallnähe" wirkt aversiv, also bestrafend. Wird der BU allerdings nicht als ein solcher erkannt, wirkt der "subjektive Gewinn" aus der eingegangenen Regelwidrigkeit negativ verstärkend.

Eine weitere Dimension kann über die Variable "Regelkonformität / -widrigkeit" eröffnet werden, so dass sich die verschiedenen Lernerfolge wie folgt aufgliedern:

Lernerfolg verschiedener MxOxPxS-Erfahrungen in Abhängigkeit von Unfall- und Beinahe-Unfall-Ereignissen bei bekannten bzw. unbekannten Regelwidrigkeiten.
Ereignis Bewertung Lernerfolg
Unfall post-hoc erkannt Abschwächung des Verhaltens*
Beinahe-Unfall Regelwidrigkeit bekannt BU erkannt Abschwächung des Verhaltens*
BU nicht erkannt Negative Verstärkung des Verhaltens
Regelwidrigkeit unbekannt BU erkannt Abschwächung des Verhaltens*
BU nicht erkannt Positive Verstärkung des Verhaltens

Besonders den nicht erkannten Beinahe-Unfällen kommt lerntheoretisch eine Bedeutung zu, da diese regelmäßig zu einer Verstärkung des gezeigten Verhaltens führen. Die Unterscheidung, ob das unerwünschte Verhalten nun negativ oder positiv verstärkt (auf Basis des Wissens, überhaupt etwas falsch gemacht zu haben: Bekanntheit der Regelwidrigkeit) wurde, ist eher akademischer Natur. Nicht erkannte BU führen immer zu einer Verhaltenshäufung.

* Die lerntheoretisch plausible Abschwächung des gezeigten Verhaltens bei Unfällen und erkannten Beinaheunfällen kann hier wiederum durch fehlerhafte Attributionen evtl. nur in Ansätzen wirksam sein: Unfälle werden situativ, überstandene erkannte BU selbstwertdienlich attribuiert.

15. Sanktionen und ihre Folgen

Vor diesem Hintergrund soll die gängige Praxis des Sanktionierungssystems im Bereich des Verkehrs einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Eine Bestrafung wird allgemein als Vergeltung für "schuldhaft begangenes Unrecht" (Cramer, 1975, S. 19) verstanden. Nach der Sammlung der Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt, speziell RGSt 58, 106 (109)) sind für das Strafmaß "das Sühnebedürfnis, der Vergeltungszweck (!) der Strafe, daneben wohl auch der Abschreckungszweck" maßgeblich, "die sonstigen Strafzwecke, der Besserungs- und Sicherungszweck, treten demgegenüber in den Hintergrund." Als lerntheoretisches Instrumentarium sind Sühne, Vergeltung und Abschreckung im Allgemeinen wie im Speziellen zu hinterfragen - aber laut Definition ist auch keine Besserung vorgesehen: Bereits in Hegels (1821) "Vorlesung zur Philosophie des Rechts" ist zu lesen, dass sich Vergeltung ausschließlich als eine "Übelszufügung zum Ausgleich der schuldhaft begangenen Tat" begreift. Neben diesem "Vergeltungsgedanken" zeigt Cramer - eine der wenigen erfrischenden Ausnahmen auf dem ansonsten der "Bestrafung von Delinquenz" verbundenen juristischen Feld - die Wirkungslosigkeit und Fehlgeleitetheit von sanktionierenden Maßnahmen gegenüber "Verkehrssünder:innen" auf. Dafür zeigt er zuerst anhand der zwar alten aber immer noch vertretenen Argumentation Bockelmanns (1954), welche Formen juristisches Denken im Zusammenhang mit Verkehrsverhalten annehmen kann:

"Alle [...] Verkehrsdelikte werden regelmäßig und in der überwältigenden Mehrheit der Fälle mit vollem Tatbestandvorsatz [...] und in vollem Unrechtsbewusstsein verübt. [...] Man kann nicht vor einer Kuppe überholen, ohne zu merken dass die Straße einer Kuppe zustrebt, man kann eine uneinsichtige Kurve nicht für einsichtig halten, es ist nicht vorstellbar, dass jemand im Schnellverkehr der Autobahn versehentlich auf einen Meter an seinen Vordermann heranfährt und es kommt nicht vor, dass der Überholende den Überholten schneidet, ohne zu erkennen, was für eine Situation er heraufbeschwört. (Bockelmann, ebd.)"

Cramer widerspricht (dankenswerterweise!): Nötigung zum Freimachen der Überholspur oder andere absichtliche Abstandsverletzungen fielen durchaus unter die Argumentation Bockelmanns (obwohl auch das evtl. noch einmal zu diskutieren wäre), der Großteil der Auffahrunfälle passiere allerdings, weil die Fahrer:innen einen korrekten Abstand eben nicht festlegen könnten: "Er (sic!) müsste dann aus dem Bremsverzögerungswert seines Fahrzeugs und seiner (individuellen) Reaktionszeit unter Berücksichtigung der Bremsansprechzeit seines Fahrzeugs den Abstand berechnen" (Cramer, ebd., S. 35), was er allerdings nicht täte, da er es nicht könne. "Statt dessen wird sich ein Fahrer auf seine Erfahrung stützen, d. h. den Abstand wählen, der in seiner bisherigen Fahrpraxis ausgereicht hat, um sicher durch den Verkehr zu kommen" (S. 36). Gleiche Überlegungen stellt er für die subjektive Einschätzung von benötigter Strecke für Überholmanöver und gefahrene Geschwindigkeiten an und kommt zu dem Schluss: "Wer die Gefahr nicht kennt, sein Verhalten also für sich und andere für unschädlich hält, dem fehlt die Einsicht in die Notwendigkeit der Norm und damit im allgemeinen auch die Bereitschaft, ihr Folge zu leisten" (S. 37).

Wenn ohne Einsicht keine Bereitschaft zur Einhaltung von Regeln zu erwarten ist, jede:r allerdings durch Erfahrungen gelernt hat, welche Regel in welchem Maße subjektiv sinnvoll, also einzuhalten ist, ist eine Bestrafung im Sinne der Strafverfolgung von Verstößen gegen die StV(Z)O beinahe wirkungslos. Cramer schließt: "Die Verhängung einer Sanktion ist kein geeignetes Mittel, eine Besserung herbeizuführen, da sie dem Betroffenen nicht das notwendige Rüstzeug an die Hand gibt, [...] ihm nicht das notwendige Wissen und die Regeln und Risiken des Verkehrs vermittelt" (S. 50). Außerdem sei eine "abschreckende Wirkung der Strafe nur bei potentiellen Vorsatztätern" zu erwarten, allerdings beruhe "die Masse der Verkehrsdelikte aber auf Fahrlässigkeit" (S. 84).

Nicht juristisch sondern lerntheroretisch, aber deckungsgleich formuliert Musahl, dass eine "Strafankündigung ohne deren Exekution kontraproduktiv" sei: "Sie verstärkt das Verhalten, das sie verhindern soll" (Musahl, 1999, S. 339). Die StV(Z)O ist ein "Paradebeispiel" für die Ankündigung und "Nicht-Exekution" von Strafen, denn dem Verhältnis von Regelübertretungen zu Ahndungen kann wohl jeder aus eigener Erfahrung einen Überhang zugunsten ungeahndeter Übertretungen bescheinigen - wodurch eben diese Übertretungen lerntheoretisch verstärkt werden. Anders ist z.B. die allgemein gelebte Daumenregel "Geschwindigkeitsbeschränkung + 10" (also die 40 statt 30 und die 60 statt 50 km/h innerorts) auch kaum erklärbar.

16. Zusammenfassung Teil IV

Beim Übergang von begleiteter Verkehrsteilnahme (bei Kindern, Fahrschüler:innen, etc.) in die unbeaufsichtigte Teilnahme an Straßenverkehr kommt es lerntheoretisch zu einer Veränderung der Verstärkungs-, Bestrafungs- und Extinktionsmechanismen. Sporadisch sanktioniertes Fehlverhalten (inkonsequente Bestrafung) führt nicht zu einer Verringerung der Verhaltensweisen. Eine wirksamere, intermittierende positive Verstärkung wäre sinnvoller, ist allerdings wenig praktikabel. Vielmehr werden erlebte Situationen und Beinahe-Unfälle (die allein statistisch meist glimpflich verlaufen) lerntheoretisch, heuristisch und attributionstheoretisch falsch interpretiert und führen meist zu einer Verstetigung des (Fehl-) Verhaltens. Die juristische Logik des Sanktionsapparates läuft den Lerntheorien oft zuwider.

 

Dies ist Teil IV eines mehrteiligen Artikels.
Weitere Teile: I. Einleitung  |  II. Urteilsheuristiken  |  III. Attributionsfehler  |  V. Beanspruchung  |  VI. Weitere Befunde & Zusammenfassung  |  VII. Präventionsarbeit

Literatur

  • Bockelmann, P. (1954). Tatbestandvorsatz bei Verkehrsdelikten. Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, 66, S. 43-58.
  • Cramer, P. (1975). Unfallprophylaxe durch Strafen und Geldbußen? Paderborn: Schöningh.
  • Hegel, G. W. F. (1821). Vorlesung zur Philosophie des Rechts von 1821, neu aufgelegt 2005, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  • Hoyos, C. Graf (1980). Psychologische Unfall- und Sicherheitsforschung. Stuttgart: Kohlhammer.
  • McGrath, J.E. (1976). Stress and behaviour in organizations. In M.D. Dunnette (Ed.), Handbook of Industrial an Organizational Psychology (pp. 1351-1395). Chicago: Rand McNally.
  • Mietzel, G. (1998). Pädagogische Psychologie des Lehrens und Lernens. Göttingen: Hogrefe.
  • Musahl, H.-P. (1997). Gefahrenkognition. Theoretische Annäherungen, empirische Befunde, und Anwendungsbezüge zur subjektiven Gefahrenkenntnis. Heidelberg: Asanger.
  • Musahl, H.-P. (1999): Lernen. In C. Graf Hoyos, & D. Frey (Hrsg.), Arbeits- und Organisationspsychologie (S. 328-343). Weinheim: Beltz PVU.
  • Zimbardo, P. G. (1999). Psychologie. Berlin: Springer.
Dieser Artikel steht unter der Lizenz CC by-sa 4.0.
Alle Teile als PDF gibt es hier: Gefahrenkognition.pdf

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert