Achtung Hirnpflicht!
Martins Blog

Dies ist der Teil VII eines mehrteiligen Artikels.
Weitere Teile: I. Einleitung  |  II. Urteilsheuristiken  |  III. Attributionen  |  IV. Lerntheoretische Überlegungen  |  V. Beanspruchung  |  VI. Weitere Befunde & Zusammenfassung

22. Ansätze für die Präventionsarbeit

Prävention - vom lateinischen praevenire: zuvorkommen, überholen, auch: früher ankommen - beschreibt die Bemühungen "des vorbeugenden Tätigwerdens [...], neben ethischen Erwägungen nicht zuletzt aus dem Bestreben heraus, Kosten für Unfälle, arbeitsbedingte Erkrankungen und Berufskrankheiten zu reduzieren" (Strobel & Stadler, 2002). Diese Bemühungen bringen einerseits erkenntnistheoretische und methodologische, andererseits organisatorische Probleme mit sich. Einen "anschaulich unanschaulichen" Eindruck gibt Fuchs (2008):

"Immer geht es um ein Vorbeugen, um den Einbezug zukünftiger, aber noch nicht geschehener Ereignisse in gegenwärtiges Verhalten, das mit der Absicht inszeniert wird, dass die noch nicht geschehenen Ereignisse auch tatsächlich nicht geschehen werden und statt dessen eine andere (erwünschtere) Zukunft als zukünftige Gegenwart erscheinen wird.

Die Zukunft [...] würde damit in gewisser Weise zur causa finalis ihrer eigenen Verhinderung. Sie wird, wenn Prävention funktioniert, niemals die Zukunft irgendeiner Gegenwart gewesen sein. [...] Daraus folgt, dass die Prävention immer mit mindestens zwei Zukünften rechnet, nämlich mit einer, die ohne Prävention, und einer, die mit Prävention auskommen muss. Und welche Zukunft die wirkliche Zukunft gewesen ist, entscheidet sich, wenn die Prävention Vergangenheit und die Zukunft Gegenwart geworden ist [...].

Kurz: Prävention ist, wenn man versucht, ihre zeitliche Form zu bestimmen, ein sehr sonderbares Geschäft."

Spätestens seit der Covid-19-Pandemie ist der Begriff "Präventionsparadox(on)" wohl hinlänglich bekannt.

22.1 Die Methoden-Logik von Prävention

Damit berührt Fuchs Grundprobleme aller Präventionsbemühungen, der empirischen Forschung und sogar der Erkenntnistheorie: Methodologisch (sprich: "methoden-logisch") muss man sich mit den Problemen von sog. "ex-post-facto"-Verfahren und sog. "post-hoc"-Annahmen auseinandersetzen.

  1. Die Beobachtung von Unfällen und die Suche nach Ursachen ist ein "ex-post-facto"-Verfahren: Diese "sind Untersuchungen eines bereits abgeschlossenen [...] Prozesses, dessen Entwicklung bis zum Einsetzen eines als kausal angenommenen Faktors zurückverfolgt wird" (Atteslander, 2000). Die systematische Variation einer unabhängigen und Beobachtung der Veränderung einer anhängigen Variablen, wie es eine Grundvoraussetzung eines "Experiments" ist (siehe hierzu Musahl, 1999, 2002), findet plausiblerweise nicht statt - die experimentelle "Herbeiführung" von Unfällen, Störungen und Krankheiten verbietet sich logischerweise. Damit verbleibt der Weg des "sozialwissenschaftlichen Experiments", wie es bei jeder epidemiologischen Forschung der Fall ist. Dadurch ist aber die systematische Überprüfung eines Ursachengefüges stark eingeschränkt - und der Gültigkeitsanspruch von kausalen Interpretationen zu hinterfragen (vgl. Wilkening & Wilkening, 1988a, 1988b).
  2. Die "post hoc, ergo propter hoc"-Annahme von Unfallursachen auf Grund ihrer zeitlichen Vorgeordnetheit ist keineswegs zwingend: "Während das empirische Datum gegeben ist - es tritt ein oder tritt nicht ein - , ist die Erklärung dieser Abfolge, z. B. im Sinne einer Ursachenzuschreibung, eine Leistung des Verstandes, die der Beobachter von Außen in die Situation hineinträgt" (Musahl, 2002) - Humes und insbesondere Lockes Kritik am induktiven Schließen wurde bereits angesprochen (Exkurs "Subjektive Wahrnehmung ..." in Teil 1).

Wenn aber Ursachen für Unfälle gar nicht oder nur schwer ausgemacht werden können, ist auch die Ableitung von Präventionsmaßnahmen problembehaftet. Die Annahme der "Risikofreude" ist - wie auch die Annahme der "gefahrenkognitiven Urteilsverzerrung" - in erster Linie nicht viel mehr als eine Hypothese. Diese muss nach erkenntnistheoretischer Logik überprüft werden: "Elimination von falschen Lösungsansätzen", formuliert es Popper (1994, Neuaufl. 2004, S. 17), "ist höchstes Ziel des empirischen Forschers". Denn die Mangelhaftigkeit der Induktion, die "Unvollständigkeit des logischen Schlusses führt nur bei Falsifikation der Hypothese zu einer 'wahren' Aussage - andernfalls hat sich die Forschungshypothese (nur) 'bewährt'" (Musahl, 2002, Hervorh. durch d. Verf.). Die differentielle oder persönlichkeitspsychologische Erklärungshypothese, wie sie in der "klassischen" Verkehrspsychologie vorherrschend ist, entzieht sich allerdings weitestgehend dieser kritischen Überprüfung. Eine "Raser-Mentalität" und "Risikofreude", "Imponiergehabe" und "Sensations-Suche" muss man - im Falle ihrer Existenz - zumeist abwarten, sie sind nicht variable Persönlichkeitsdispositionen. Die messbaren korrelativen Konstrukte (z. B. Sensation Seeking) haben sich oben als nur begrenzt tragfähig und ungeeignet für präventive Ansätze gezeigt. Das Konzept der Gefahrenkognition besitzt ihnen gegenüber nicht nur den Vorteil, dass diverse empirische Überprüfungen bereits stattgefunden haben (in den Forschungsarbeiten der FoGS, aber auch darüber hinaus), sondern auch den, dass die Veränderbarkeit von kognitiven Funktionsweisen und Beeinflussung von Lernvorgängen als relativ gesichert angesehen wird, dadurch also a) überhaupt Interventionsspielraum gegeben ist und b) feststellbar zurückgehende Unfallzahlen als Wirkung dieser Interventionen gelten können.

"Der Begriff der Risikogruppe unterstellt, dass die Gruppenmerkmale bereits vor dem Eintritt des Risikos in ihrer kritischen Ausprägung vorgelegen haben" schreiben Ohlmann & Musahl (2002), und konnten in einer Faktorenanalyse der soziodemographischen Daten einer Wegestudien-Stichprobe ohne Berücksichtigung konkreter Unfalldaten Variablenkombinationen identifizieren: Es deuteten sich auch hier Wechselwirkungen zwischen Beanspruchung, Straßenart und Unfällen an: "War die Diskussion bisher beherrscht von technischen bzw. organisatorischen Argumenten, liegt ein systemischer Wechselwirkungsbefund vor, der eine psychologische Intervention ermöglicht", schließen sie.

Gefragt sind also Präventionsmaßnahmen, die sich auf solche Variablen beziehen, die dem Zugriff einer Intervention zugänglich sind. Angenommen wird, dass auch für Wegeunfälle der arbeitssicherheitliche Slogan gilt: "Unfälle geschehen zuerst im Kopf!" - oder: Sicherheitsrelevantes Verhalten folgt kognitions- und lernpsychologischen Prinzipien und erscheint dem Handelnden im Moment der Handlungsausführung zwar plausibel und fehlerfrei, im Falle eines (statistisch seltenen) Unfalls beklagt er aber sein Fehlurteil. In diesen Prozess kann man eingreifen und sachgerechte Urteile befördern, wie eine Vielzahl systematisch evaluierter Studien zeigt. Bei Empfehlungen für die Prävention von Wege- und Verkehrsunfällen allgemein ist also von einer positiven Auswirkung auf das subjektive Gefährlichkeitsurteil und in der direkten Folge auch von einer Verringerung der Unfallzahlen auszugehen.

22.2 Die "Organisationsdimension" von Prävention

Bei der zu entwickelnden Präventionsstrategie handelt es sich um Eingriffe in die Organisationsstruktur der Versicherungen und/oder der versicherten Unternehmen. Dafür sind verschiedene Grundvoraussetzungen zu erfüllen: Die Rolle der Führungskräfte betonen Musahl, Schwennen & Hinrichs (2005): "Nur wenn es gelingt, diese (die Führungskräfte, Anm. d. Verf.) für ein partizipatives Sicherheitsprogramm zu gewinnen, nur wenn sie die erforderliche Kleingruppenarbeit unterstützen, kann das Sicherheitsprogramm erfolgreich sein." Die zweite Bedingung ist dementsprechend die Partizipation der Mitarbeiter: (Teil-) Autonome Arbeitsgruppen und deren Bedeutung in  Umgestaltungsprozessen (vgl. Kaizen, KVP o. ä.; zur japanischen Vorreiterrolle: Womack, Jones & Roos, 1991) beschreibt Antoni (1999) als elementar. Außerdem muss eine "Kultur der Fehlerfreundlichkeit" etabliert werden. Damit wird gleichzeitig ein bestimmtes Menschenbild gefordert. Diese Bedingungen sollen im Folgenden anhand verschiedener Forschungsarbeiten der FoGS kurz umrissen werden:

Die im Zusammenhang mit der Verkehrssicherheit erläuterten kognitionspsychologischen Prinzipien und die Berücksichtigung der Gefahrenkognition zur Entwicklung von betrieblichen Interventionen geht auf die Arbeiten Musahls und seiner Forschungsgruppe zurück. In etwa mit den "Unfallanalysen bei der Bergbau AG Niederrhein" zum Ende der 1980er Jahren seinen Anfang nehmend, entwickelte es sich zum Schwerpunkt verschiedener bereichsspezifischer Forschungen der FoGS. Neben dem Bergbau vor allem im Metallgewerbe im Ruhrgebiet zum Einsatz gekommen, zeigt sich regelmäßig das bereits in obiger Abbildung dargestellte "Kernergebnis": Die systematische Unterschätzung von Gefährlichkeit, welche einen überproportional großen Teil der Unfälle auf sich vereinigt.

Die jeweilig feststellbare Wirksamkeit einer Urteilsverzerrung bei der Beurteilung von Gefahren mündet in verschiedene Maßnahmen zur "Korrektur der Gefahrenkognition":

  1. Sicherheitspsychologische Weiterbildungsmaßnahmen für alle Führungskräfte,
  2. die Vermittlung von Kenntnissen über den Zusammenhang von Gefahrenkenntnis und Vorsorgeverhalten,
  3. die Informationen aus den jeweilig erhobenen Daten zur Gefahrenkenntnis und
  4. Seminare, Einführung von Kleingruppenarbeit und Sicherheitszirkeln zur Reduzierung der Unfallzahlen

spannen den Rahmen für sicherheitsrelevante Interventionen auf (vgl. Musahl, 1997, S. 430ff.). Zielgruppe der FoGS-Arbeiten sind nicht nur die großen Konzerne, es gelang außerdem die Übertragung des Konzeptes auf KMU (Wormuth, Hinrichs, Bailey, Craney & Rinke, 2002).

Die Adaption auf den Bereich der Gesundheitskenntnis mündete u. a. in das Verbundprojekt "Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz (SIGA)": Schwennen, Musahl & Hinrichs (2004) modellieren einen "Einstieg in ein partizipatives Störungsmanagement für Großunternehmen sowie KMU zur Förderung der Kompetenzen der Mitarbeiter [...]". Auch hier wird neben der Mitarbeitendenbeteiligung die Rolle der Führungskräfte hervorgehoben: "Führungskräfte bestimmen das Ob, Wann und Wie von Interventionen und deren Erfolg maßgeblich mit. Gelingt es dem BGF-Agenten (BGF = Betriebliche Gesundheitsförderung, Anm. d. Verf.) nicht, Führungskräfte für die Maßnahme zu gewinnen, dann wird sie vermutlich scheitern" (Schwennen, Hinrichs, Neuschäfer & Musahl, 2003).

Ein ähnlicher Adaptionsprozess wird von Hinrichs, Musahl, Schwennen, Haustein & Neuschäfer (2003) zur Anwendung der Erkenntnisse über die Gefahrenkenntnis auf das Qualitätsmanagement durchgeführt. In seiner Dissertation entwickelt Hinrichs (2005) ein "Analyse- und Controlling-Instrument zur Qualitätskenntnis" und verweist auf a) die notwendige Mitarbeitendenpartizipation und b) ein "Kompetenzmanagement": Wie auch bereits im Leitfaden  "Kompetenzmanagement als Bedingung erfolgreicher Gruppenarbeit in KMU" (FoGS, 2001) wird darauf hingewiesen, dass Mitarbeitendenbeteiligung kein "Selbstläufer" ist, sondern einer parallelen Organisations- und Personalentwicklung bedarf.

Diese systematische Reorganisation von verschiedenen Unternehmens- oder Betriebsbereichen muss bestimmten Anforderungen genügen. Fehlerfreundlichkeit sowie Partizipation und Wertschätzung der Mitarbeitenden einerseits, die Beteiligung und Antrieb durch Führungskräfte andererseits werden als elementar für erfolgreiche Veränderungsprozesse gekennzeichnet:

Fehlerfreundlichkeit ist dabei abzugrenzen von Fehlertoleranz. Fehlertoleranz, wie sie technisch und organisatorisch herzustellen möglich ist und praktiziert wird, kann die Kontroll-Illusion unterstützen: "Wenn diese Systeme Fehler tolerieren, indem sie deren Wirkung kompensieren, ohne dass diese Tatsache dem Operator zurückgemeldet wird, dann wird er sich künftig nicht anders verhalten. Es gibt auch keinen Grund, an der perfekten Funktion des Systems zu zweifeln", formuliert es Musahl (2001, S. 8). Das Verstecken von Fehlern und Störungen ist außerdem "zumeist sozial intelligenter" (Musahl, 1999, S. 341) und muss verhindert werden, um einer störungsorientierten Intervention Platz zu machen: Beinahe-Unfälle müssen entdeckt und kommuniziert werden, um Mitarbeitende für Gefahren (= potentielle Gefährdungen) zu sensibilisieren. Auch Sicherheitswettbewerbe müssen dieser Maßgabe genügen. Das herkömmliche Belohnen der geringsten Unfallzahl begünstigt die Vertuschung von Störungen, verstärkt dieses Verhalten sogar. Prämien für die Aufdeckung von Beinahe-Unfällen sind dagegen unkonventionell, aber sinnvoll.

Eine weitere Forderung ist die Einsicht, dass Urteilsprozesse unabhängig von der Position in einer Unternehmenshierarchie ausnahmslos jedem unterlaufen; kognitive Ergonomie verändert sich nicht mit Führungsverantwortung. So unterliegen Führungskräfte der oben erläuterten Kontroll-Illusion ebenso wie ihre Mitarbeiter "an der Basis". Das Wahrnehmen der Mitarbeitenden als selbständig denkende und intelligente Wesen (als "complex man", vgl. die Entwicklung des Menschenbildes in Organisationen von Picot, Reichwald & Wigand, 2001, S. 472ff.) und die Vermeidung von pauschalen Urteilen über das vermeintlich dumme, in Wahrheit aber wissenskonsistente Handeln gehören zu den grundlegenden Bedingungen der Interventionsmaßnahmen.

Partizipation meint in diesem Zusammenhang, dass Führungskräfte nicht nur ausgewählte Prozesse anstoßen und begleiten müssen. Das Ziel muss vielmehr in einer gemeinsamen Erarbeitung von unternehmensinternen Strategien und Kommunikation von praktischen Erfahrungen vor dem Hintergrund der Gefahrenkenntnis liegen. Bei so genannten Sicherheitszirkeln oder anderen Kleingruppen muss also - in Anlehnung an die "Qualitätszirkel" des KVP - gleichberechtigte Teilnahme und Einbringung von Führungskräften und Mitarbeitenden gleichermaßen erfolgen.

23. Präventionsmaßnahmen

Aus den theoretischen Grundlagen der Teile II, III und IV, den Befunden aus den Wegestudien (Teile V und VI) und den Vorüberlegungen zu Prävention (oben) lassen sich entsprechend folgende Präventionsmaßnahmen ableiten, die je nach Risikogruppenanalyse und Unternehmensstruktur weiter anzupassen sind:

  1. Grundsätzliche Aufklärung über die Funktionsweise kognitionspsychologischer Prozesse:
    Die Funktions- und Wirkweisen von Urteilsheuristiken, Attributionen und Lernmechanismen müssen allen Betroffenen erläutert und veranschaulicht werden. Kleine Seminar-Experimente (s. Beispiele zu Heuristiken), Schätzfragen und Diskussionen (zu "Schuld"-Fragen, Attribuierungen) dienen dabei zur Verdeutlichung und zum eigenen Erfahren der Wirkweisen bei den Teilnehmenden. Nur ein Wissen über diese Vorgänge kann zu einer Sensibilisierung für sie beitragen. Selbst wenn die Mechanismen weiter wirksam bleiben (und das werden sie vermutlicherweise), kann zumindest eine Skepsis gegenüber der eigenen Beurteilungsfähigkeit trainiert werden. Die Didaktik und Inhalte sind jew. an Alter, Hintergrund und weitere Zielgruppenspezifika anzupassen.
    Fortbildungsmaßnahmen sollten Einheiten umfassen, die eine mutwillige (temporäre) Erstellung von Kontroll-Illusionen beinhaltet.
    Dabei sind Führungskräfte, Team- und Abteilungsleitungen gern gesehene Teilnehmende, die oft vorherrschende "Top-Down"-Logik von Arbeitssicherheits-"Unterweisungen" (alleine die Bezeichnung entlarvt ihre fehlende Augenhöhe) müssen vermieden werden. In dem Zusammenhang sind Vorverurteilungen kategorisch vermeiden: Zum Beispiel ist die Eingruppierung jüngerer Beschäftigter in eine Gruppe von "Raser:innen" auch vor dem Hintergrund, dass die älteren Teilnehmenden diesen Lebensabschnitt nur aufgrund der statistischen Seltenheit von Unfallereignissen unfallfrei verbracht haben, unbedingt zu verhindern.
  2. Zusätzliche zielgruppengerechte Angebote:
    • Bei jungen Verkehrsteilnehmer:innen und Fahranfänger:innen hängt die strukturelle Veränderung des Urteils auch vom Wissen (z. B. über physikalische Prinzipien) und von der Erfahrungsbildung der Jugendlichen und jungen Erwachsenen ab. Neben einer - im Gegensatz zum theoretischen Unterricht vieler Fahrschulen weniger belehrenden - Vermittlung von fahrphysikalischen Grundlagen und der Befüllung der Merksätze mit Inhalt ("Was heißt eigentlich: Der Bremsweg verlängert sich mit dem Quadrat der Geschwindigkeit?") müssen hier eigene Erfahrungen eine Rolle spielen. Diese können am Bildschirm (z.B. Simulation von Fahrsituationen in Dunkelheit mit Suchspiel zu Gefahrenquellen), besser noch in Verkehrssicherheitstrainings vermittelt werden: Das eigene Erleben fahrphysikalischer Gesetzmäßigkeiten und der Grenzen eigener Fahrkompetenz ist hier mehr als sinnvoll. Damit es dabei nicht zu fehlerhaften Attributionen kommt, sollten diese Trainings den kognitionspsychologischen Aufklärungen nachgelagert sein.
    • Für weibliche Betroffene, die deutlich mehr Beanspruchung auf dem Arbeitsweg erleben, können ebenfalls spezifische Veranstaltungen (evtl. von Frauen für Frauen) sinnvoll sein. In Abwesenheit von patriarchal orientierten männlichen Kollegen (und deren "Das bischen Haushalt..." oder "Frauen und Technik"-Kommentare) sollen hier die speziellen (Wege-) Bedingungen der Mitarbeiterinnen (kürzere Wege, höhere Beanspruchung, kleinere Fahrzeuge - oft familiäre Restposten mit weniger hohen Sicherheitsstandards, ...), aber auch technische und physikalische Details in einem "safe space" thematisiert werden.
      Die betrieblichen Angebote (Kinderbetreuungsoptionen, Familienservices, Home Office) können hier bekannt gemacht, Bedarfe identifiziert und entsprechende Angebote gefordert werden.
    • Ein weiteres Angebot sollte sich an Schichtarbeitende und andere Nachtfahrende, darüber hinaus auch an die jüngeren Verkehrsteilnehmenden richten: Zur Identifikation von "Hangover"-Effekten (Müdigkeit, Restalkohol) und geringerer Wahrnehmungsfähigkeit bei Nachtfahrten können freiwillige, möglichst anonyme Reaktionstests vor Arbeitsbeginn oder nach "langen Tagen" sinnvoll sein, um Betroffene auf Selbstüberschätzungen (Müdigkeit, Restalkohol) oder auf spezielle Gefahren von Fahrten bei Dunkelheit hinzuweisen.
    • Nicht zuletzt sollten Pendler:innen mit weiten Wegen über die U-förmige Verteilung und die steigende Unfallgefährdung bei langen Fahrten aufgeklärt und zu einem "Pausenmanagement" angeregt werden.
  3. Partizipative Weiterentwicklung betrieblicher Rahmenbedingungen
    Die notwendige Bedingung der Fehlerfreundlichkeit - u.a. zur Erkennung von Beinaheunfällen - muss sich in den betrieblichen Rahmenbedingungen wiederfinden: Statt geringe Unfallzahlen (wie in der Arbeitssicherheitsarbeit damals gängig) zu prämieren, sollte ein betriebliches Beinahe-Unfall-Monitoring installiert werden. Hier können Gefahrenquellen gemeldet und Beinahe-Verkehrsunfälle geschildert werden. Diese Meldungen sind bei Gestaltung von z.B. Firmenparkplätzen, aber auch für die inhaltliche Gestaltung von Workshops (s.o.) unerlässlich.
    Ein sicherheitsorientiertes Vorschlagswesen kann neben die bereits etablierten Vorschlagssysteme oder "Meckerkästen" treten, die Vorschläge müssen mit entsprechend hoher Priorität behandelt werden (statt sie als "Gedöns" abzutun, was uns in technisch orientierten, meist männlich geprägten Unternehmen durchaus begegnet ist): BU-Berichte sind kein Eingeständnis von Schuld oder Schwäche, vielmehr ein wichtiger Beitrag zum Gesundheitsmanagement. Ihre Wertschätzung kann daher nicht hoch genug sein, eine Prämierung besonders unfallvermeidender Vorschläge kann hilfreich sein.
    Zur Vermeidung von Verkehrsexpositionen und Steigerung der Familienfreundlichkeit sind (Gleit-) Zeitmodelle und HomeOffice-Regelungen zu überprüfen. Die Haltung "Nur Arbeit, die man sieht, gilt als geleistete Arbeit" sollte eigentlich seit der HomeOffice-Phase während der Covid-19-Pandemie überwunden sein, der Trend "Zurück ins Büro" ist allerdings nicht von der Hand zu weisen.
    Jede:r Arbeitgeber:in ist außerdem aufgefordert, sich Gedanken zur Verkehrsmittelförderung zu machen: Job-/Dienstrad-Modelle, Bahncards und Deutschlandtickets sind Möglichkeiten, die Verkehrsexposition auf weniger unfallbelastete Verkehrsbereiche zu verlagern, bei bestehenden Modellen zu "Mobiler Arbeit", geeigneten Tätigkeiten und vorhandener Infrastruktur (Dienstlaptops, VPN-Verbindungen, etc.) kann die teilweise Anrechnung von Bahnfahrten auf die Arbeitszeit diskutiert werden.
  4. Verankerung und Verstetigung
    Der hohe Stellenwert, den die (Verkehrs-) Sicherheitsarbeit einnimmt, wird neben der Einbindung von Führungskräften und Abteilungsleiter:innen auch in institutionalisierter Sicherheitsarbeit sichtbar: Feste Ansprechparter:innen und Abläufe, und eine Regelmäßigkeit von Kleingruppenarbeit und Trainings sind dafür unerlässlich.

24. Schlussbemerkungen

Natürlich können die skizzierten Präventionsmaßnahmen nicht passgenau für jedes Unternehmen sein, aber die Stoßrichtung sollte klar geworden sein: Augenhöhe, Wertschätzung, Fehlerfreundlichkeit und Denken "outside the box" prägen nicht nur den Maßnahmenkatalog oben als vielmehr das gesamte Konzept der Gefahrenkognition: Die in mehreren Studien nachgewiesene Konfundierung verschiedener Variablen wie Verkehrsmittelwahl, Wegelänge, Tageszeit der Verkehrsteilnahme und das kognitionspsychologische Erklärungsmodell für objektiv unangemessenes, subjektiv wissenskonformes Verhalten ohne (Vor-)Verurteilung von Unfallopfern aufgrund angenommener interpersonaler Persönlichkeitsdispositionen lässt sich wie folgt zusammenfassen:

Nicht Personen sind, sondern Bedingungen schaffen Risikogruppen. Menschen erleiden keine Unfälle aus Dummheit oder Veranlagung, sondern handeln konsistent zu ihrem kognitiven Gefährlichkeitsabbild der objektiven Gefahr.

In diversen Projekten sind oben genannte und ähnliche Maßnahmen - jeweils abgestimmt auf Zielgruppen und Unternehmensspezifika - von Mitarbeiter:innen der FoGS initiiert und begleitet worden. Die Evaluationen zeigten einen rückläufigen Trend in den Arbeits- und Verkehrsunfallzahlen.

Hinweis: Der Großteil der in dieser Artikelserie angegebenen Literatur und der geschilderte Stand der Sicherheitsdiskussion ist evtl. veraltet; meine Forschung und Arbeit an den Themen erfolgten in den Jahren 2000 bis 2006.

 

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Literatur

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  • Fuchs, P. (2008). Prävention - Zur Mythologie und Realität einer paradoxen Zuvorkommenheit. In: I. Saake, I. & W. Vogd (Hrsg.), Mythen der Medizin. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 363-378.
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  • Schwennen, C., Hinrichs, S., Neuschäfer, N. & Musahl, H.-P. (2003). Die Rolle der Führungskraft im betrieblichen Gesundheitsschutz - eine personenzentrierte Intervention. In K.-P. Timpe, & H.-G. Giesa (Hrsg.), Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. 12. Workshop 2003 (S. 377-380), Kröning: Asanger.
  • Schwennen, C., Musahl, H.-P. & Hinrichs, S. (2005). Betriebliche Gesundheitsförderung: Das Projekt SIGA. In L. Packebusch, B. Weber & S. Laumen (Hrsg.), Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. 13. Workshop 2005: Prävention und Nachhaltigkeit (S. 235-238). Kröning: Asanger.
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  • Wilkening, F. & Wilkening, K. (1988b). Studieneinheit Versuchsplanung. VERS/10: Expost-facto-Anordnung. In W. F. Kugemann & W. Toman (Hrsg.), Studienmaterialien FIM Psychologie, Universität Erlangen-Nürnberg.
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  • Wormuth, L., Hinrichs, S., Bailey, A., Craney, S. & Rinke, H. (2002). Das Konzept der "Gefahrenkenntnis" in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). In R. Trimpop, B. Zimolong & A. Kalveram (Hrsg.), Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. 11. Workshop 2001: Neue Welten - Alte Welten, Kröning: Asanger.
Dieser Artikel steht unter der Lizenz CC by-sa 4.0.
Alle Teile als PDF gibt es hier: Gefahrenkognition.pdf

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